Название | Tingeln durch das Land Danach – Band 1 |
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Автор произведения | Eike Borchers |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991077435 |
Berlin, Sommer 2020
(2) Über Erinnerungen
Irgendwann, wenn sich das Wagenrad des Lebens schon ziemlich weit abgerollt hat und wieder seinem Ausgangspunkt zustrebt, von der anderen Seite gewissermaßen, beginnt für viele die Lust an der Erinnerung.
Die Geschichten unserer Kindheit mit ihren goldenen Sonnen und unverstandenen Schatten fangen an, sich selbst zu erzählen und drängen sich in unsere Träume und Tagträume. Was da alles in dem großen Topf der Erinnerungen gelandet ist, was wir immer mal wieder erzählt oder uns heimlich selbst zugewispert haben – manchmal gerne, manchmal auch mit einem untergründigen Schrecken – gewinnt an Bedeutung und Gewicht.
Unser Leben lang sind wir getrimmt worden, kausal zu denken, und so geschieht es uns im Alter, auch unser eigenes Leben als eine plausible, logische Kette von Ereignissen zu sehen. In unseren Erinnerungen und den daraus folgenden Deutungen der Gegenwart sind wir nur zu gerne – wie es scheint – Anhänger der alten indischen Karmalehre und sehen das Leben als Gewebe aus Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion, Tat und Vergeltung.
Den Geschichten der frühen Jahre messen wir dabei – so haben wir es gelernt – ganz besondere Bedeutung für das Spätere, für die Gegenwart bei, den Rang von Prägungen und Tätowierungen, von Schicksal, das unsere Muster webte und wirkte und uns schließlich so bewirkt hat, wie wir nun einmal geworden sind. Das Brot der frühen Jahre, die Nahrung, die man uns damals gab, gut oder schlecht, ärmlich oder reichlich, baute uns auf – so oder so –, ließ uns wachsen und werden, gab uns Gestalt und Geist. So haben wir es gelernt.
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„Aufwachsen“ ist eine Zeit des schnellen Wandels und der großen Umbrüche. Das Leben bebt und schwankt immer wieder. Die Erwachsenenwelt schiebt sich über die Kindheit, die Zivilisation über die Wildnis, die Pflicht über den Traum. In solchen Wendezeiten entsteht Druck. Heikle, unsichere Lebenspassagen folgen aufeinander mit einer Fülle von Initiationen und Irritationen. Triumphe und Niederlagen, Freude und Scham folgen in stetem Wechsel.
Diese Umbruchphasen sind es, die ich jetzt klarer sehen möchte. Denn das waren Zeiten, in denen ich anfing, selber Entscheidungen für mein Leben zu treffen, grobe, unklare Ziele abzustecken und Wege zu gehen, die zu diesen Zielen führen sollten. Heute kann ich sagen: es waren Zeiten wichtiger „Alleingänge“, denn da war in den entscheidenden Momenten niemand, bei dem ich Rat einholte oder Hilfe suchte, mit dem ich über das, was ich tat und vorhatte, redete. Oft wollte ich das auch gar nicht. Zwar waren immer Menschen um mich herum, mit denen ich lebte und lachte, die ich liebte. Doch viele Entscheidungen traf ich allein, und auch die Wege, die ich dann einschlug, ging ich allein. Die Zeit meines Aufwachsens war wirr und kaputt und voller Widersprüche und ich wusste immer, dass ich mich letztlich allein durch all die Widrigkeiten auf meinen Wegen hindurchwursteln musste.
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Wenn geotektonische Platten gegeneinander drücken, entsteht meist ein tiefer Bruchgraben. Auch psychotektonische Verschiebungen hinterlassen Spuren:
Irgendwo da unten, ganz tief unten, na sagen wir vielleicht vierhundertachtunddreißig Meter unter dem Meeresspiegel meines alltäglichen Bewusstseinszustandes, gibt es so einen Graben. Er führt in mein „Totes Meer“, das Meer, das keinen Abfluss hat.
Ich habe viele Schiffchen ausgesetzt auf die Wellen meines Jordans. Sie trugen all das, womit ich mich nicht beschäftigen konnte oder wollte damals – und was ich daher über eine lange Zeit liegen ließ, unberührt und „unbegrübelt“. Sie trugen Rätsel, die ich nicht gelöst hatte, sie trugen Bilder und Gefühle, die ich erst einmal loswerden wollte. Die Schiffchen sind abgedriftet, haben Fahrt aufgenommen und sind schließlich dort gelandet, wo sie nicht mehr weiter konnten – in meinem „Toten Meer“. Da dümpeln sie nun: mit Bildern, die ich „eigentlich“ nicht aufbewahren wollte, mit Geschichten, die ich „eigentlich“ hinter mir lassen wollte und auf die Reise ins Vergessen schickte. Damals, in der Ursituation, ließ ich die Schiffchen fahren und fühlte mich freier.
Sie waren aber nicht weg.
Sie kamen zurück und mit ihnen die Bilder von Menschen und ihren Geschichten. Manchmal kamen sie in meinen Träumen und oft in Tagträumereien. Sie kamen in Filmen, die in bestimmten Situationen des Lebens plötzlich nebenher liefen. Da gab es „Déjà-vus“, die sich wie ein feiner Firnis über Erlebnisse der Gegenwart legten. Schließlich entstand der Wunsch, hinunter zu steigen und die ganze Flottille genauer zu betrachten.
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Allerdings: die Beschäftigung mit den eigenen Erinnerungen, den abgedrängten, ins „Tote Meer“ verschobenen, das Niederschreiben des „eigenen Lebens“ oder eines Teils davon, steht unter einem großen, unauslöschlichen Vorbehalt.
Die Situation, die einstmals war, existiert nicht mehr: sie ist nicht identisch mit der Situation, die erinnert wird. Ich kann sie nur unvollkommen rekonstruieren. Denn was ich heute tue, ist, eine Geschichte erzählen: fiction – faction. Das heißt aber: ich schaffe etwas Neues, etwas anderes.
Ich kann die Lebewesen, denen ich in vergangenen Bewusstseinsaugenblicken begegnete, nicht wieder lebendig machen. So wie sie damals waren, haben sie gelebt, so leben sie nicht mehr und so werden sie nie wieder leben.
Das Ich, das damals handelte, existiert nicht mehr: es ist nicht identisch mit dem Ich, das sich jetzt erinnert. Es ist nicht rekonstruierbar. Manch einer glaubt ja, er sei immer „derselbe“ geblieben, sich selbst immer gleich, sich selbst immer treu, immer das gleiche Ich. Das ist eine Illusion. Wenn ich heute von meinem fünfzehnjährigen „Ich“ erzähle, so ist das ein ferner Bursche, eine historische Gestalt. Nie kann ich ihn „ganz“ sehen, so wie er damals war. Ich erzähle von einem anderen.
Die Leiden und Schmerzen, die Freuden, Triumphe und Glücksgefühle, die in den Erinnerungen hochgespült werden, waren einmal wirklich, waren echt, sind es aber nicht mehr. Sie sind heute Phantomgefühle: Phantomschmerzen und Phantomfreuden. Sie hatten ihre Zeit und ihre Berechtigung und es besteht kein Grund, dass ich sie noch einmal so fühle wie einst. Das ist unmöglich und das ist auch gut so.
Alle Erinnerung reduziert das Gewesene. Die Lichter und Schatten, das Vogelgezwitscher und Hundegebell jenes Sommertages in meiner Kindheit, an dessen Morgen das furchtbare Ereignis geschah, sind „dahin“. Was bleibt, sind Worte. Das Ereignis selbst ist „dahin“. Was geblieben ist, sind Gefühle, die nicht zu löschen sind.
Was ich erinnere, kleide ich neu ein – und zwar immer und immer wieder neu und noch einmal neu. Meine heutigen Gedanken ummanteln die Erinnerungen – aber auch meine heutigen Gedanken haben keinen Bestand, sind flüchtig und wandelbar. Was ich erinnere – das ist mir klar –, unterfüttere ich mit dem, was ich später dazu hörte, las und lernte – aber ich höre, lese und lerne weiter. Neues kommt hinzu.
Ich vergleiche mit den Erlebnissen anderer, ich relativiere, verschlucke dies und gebe jenem einen edlen Glanz. Was ist „Schreiben“? Urteilen, bügeln und glätten, schleifen, schmirgeln und polieren …
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So viele Fallstricke.
Was war denn nun wirklich? Was ist die Wahrheit? Die „historische“ Wahrheit? Ich weiß es nicht. Doch was soll’s? Die Erinnerungsschatten sind da, die Erinnerungen kommen hoch. Sie sind ein Bedürfnis, oft eine Sucht der gnadenlos alternden Alten. Sie sind Lust und Last zugleich. Sie werden zu Erzählungen, sie füllen Bücher, sie sind nie vollständig, sie sind nicht wahr und nicht falsch. Erzählungen von einem gelebten Leben: „Autobiografie“, ein literarisches Genre.
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So sollten wir sie sehen und so können wir sie lieben, unsere Erinnerungen:
Als Romane und Traumgeschichten unseres „Selbst“, das immer in Bewegung ist, als Traumgeschichten der vielen, vielen Egos, die einander gebaren und wieder starben, bis hin zu dem Ich, das jetzt und hier an dieser Tastatur sitzt, an diesem Schreibgerät, und das nachher schon nicht mehr sein wird – und schon längst nicht mehr dann, wenn du das liest …
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