Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst. Martin André Steinert

Читать онлайн.
Название Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst
Автор произведения Martin André Steinert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991300021



Скачать книгу

sie zu einem engen Zopf zusammenband, der die langen Haare für mich unsichtbar erschienen ließ. Denn mit offenen Haaren fühlte ich mich wie nackt, entblößt, meine falsche Identität nach außen zeigen zu müssen. So war der Tag meiner Konfirmation auch der einzige, an dem ich keinen Zopf hatte. Meine Bilder mit langen, offenen Haaren fand ich zwar schön. Aber das Mädchen auf dem Bild war nicht ich, sondern eine andere Person!

      Obwohl meine Realschulzeit für mich keine leichte Zeit war, hielt ich mich tapfer „über Wasser“ und klammerte mich an die Anerkennung meiner schulischen Leistungen, die meine Anorexie immer wieder verschleiern konnten.

      Ein Wechsel auf ein weiterführendes Gymnasium stand außer Debatte, da ich meine Mittlere Reife im Jahr 1994 mit 1,0 abschloss.

      Ich wollte selbst unbedingt weiterlernen, da für mich der Erfolg damals sehr wichtig war, um mir, mehr oder weniger unbewusst, für meine Krankheit mehr Raum und Freiheit zu erkämpfen. Denn nicht alles Wissen kam mir entgegengeflogen. Manches musste ich mir mit viel akribischem Fleiß, einer immer größeren Verbissenheit und Präzision hart erarbeiten. Der Druck meiner Sucht, mir selbst gegenüber immer perfekter werden zu müssen, zeigte sich auch in meinem Leistungswillen.

      Aufgrund meiner Lieblingsfächer Biologie und Chemie wechselte ich dann noch im Jahr 1994 auf das Ernährungswissenschaftliche Gymnasium (EG) in Göppingen.

      Allerdings in einem gesundheitlich zunehmend bedenklichen Zustand. Nicht aus dem Grund, weil ich vielleicht noch keine richtige Behandlung für mein Suchtproblem gefunden hatte. Im Gegenteil!

      Schon im selben Jahr mit dem Ausbruch meiner Anorexie im Alter von zwölf Jahren begann meine zusätzliche Therapie-Odyssee, die ich nur vereinfacht beschreiben kann. Natürlich schickten mich meine besorgten Ärzte und nach Hilfe flehenden Eltern in zahlreiche „spezialisierte“ Psychotherapien. Allerdings ohne großen Erfolg und mit stetigem Wechsel, weil nur meine Anorexie im Mittelpunkt stand.

      Obwohl ich vor den ersten Therapien große Angst hatte, ging ich bereitwillig hin, weil ich mir tief in meinem Innern doch eine Hilfe versprach. Aber der Schein trügte.

      Vielleicht hatte ich wirklich nur Pech. Oder die mangelnde Aufklärung meiner zahlreichen Psychotherapeuten (im ländlichen Raum) in den 90er-Jahren führte zu einer immer stärkeren Abwehr und Frustration bei mir. Von der ersten Therapie an versuchte ich verzweifelt über meine tiefsten Probleme zu reden. Ich wagte sogar den großen, schweren Schritt, mich etwas zu öffnen und meinen Identitätskampf zu erwähnen. Aber ich wurde nie angehört, dagegen vielfach belächelt und sogar als „Neutrum“ bezeichnet, welches seinen Fantasien durch den Suchtdruck freien Lauf ließe und nicht gesund werden wolle! Meine Identitäts„krise“ wäre nur eine Phase oder aber mein Vorwand, nicht essen zu „WOLLEN“. Ich solle einfach mit dem „Hungern“ aufhören, wieder zunehmen, dann würden all meine Probleme gelöst. Dabei waren meine Gefühle nicht in Worte zu fassen. Ich entwickelte von Therapie zu Therapie eine größere Abwehrreaktion, nochmals eine zu machen. Meine Trauer, Wut, Enttäuschung und totale Frustration trieben mich immer weiter in meine Sucht, anstatt mir zu helfen. Aber auf der Berg- und Talfahrt meiner Anorexie war es vielfach aus ärztlicher Sicht eine unumgängliche Notwendigkeit, erneut einen Versuch zu unternehmen. Und ich lernte in meiner Verzweiflung das „Spiel“ mitzuspielen.

      Ich sagte zu allem Ja und willigte ein, alles anders zu machen. Daheim angekommen, ließ ich dann meinem Frust freien Lauf und versprach meiner Seele, dass ich sie nicht mehr weiter dem „Feind“ bloßstellen und meinen Körper weiter quälen würde. Ein Ritual meiner letzten Kontrolle, meines Schutzschildes, das von Therapie zu Therapie immer härter werden musste! Ich rannte nicht mehr nur vor mir selbst weg. Durch die meisten meiner Psychotherapeuten/-innen wurde ich in ein Labyrinth getrieben, in dem ich noch hilfloser umherirrte, als jemals die Chance zu erhalten, aus ihm herauszufinden, zu mir selbst; als einzig richtigem Ausgang!

      Meine Therapeuten/-innen machten mir dagegen unmissverständlich klar, dass mein Identitätsproblem eine Folge meiner Sucht sei, und NICHT mein „Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein“ die Grundlage meiner Sucht! Diese Meinung traf mich am härtesten. Ich fühlte mich wie eine junge Schildkröte, die ihren Hals immer wieder vorsichtig und noch sehr ängstlich ausstreckte, um einen Blick in die fremde Umwelt zu riskieren. Dann aber bekam sie einen Schlag auf den anderen auf ihren Kopf, bis sie ihn wieder komplett eingezogen hatte und in ihrem Panzer verharrte, der im Verlauf der Zeit zunehmend größer und dicker wurde.

      Im Ernährungswissenschaftlichen Gymnasium vollzog sich mein Lernen mit einem zunehmenden Tunnelblick. Ich programmierte mich auf „Leistungsausgabe“ wie eine Maschine. Alles um mich herum erschien wie „verschleiert“ und unwichtig. Dabei wurden von mir auch letzte soziale Kontakte weitestgehend abgebrochen, selbst die zu meinen Klassenkameraden/-innen. Das „Mobbing“ hörte zwar in diesen drei Jahren auf, aber verstanden werden konnte ich von meinen Mitschülern/-innen nicht mehr. Ich lebte in einer anderen, überwiegend dunklen Welt.

      Ich verstand auch meine Umwelt immer weniger, weil meine eigene Identität für mich selbst die größte Frage war: Wer war ich, und welche Rolle hatte ich zu spielen? Ich wusste es nicht. Vor allem wollte ich nach außen hin Kraft, Stärke und Beständigkeit zeigen. Im Gegensatz zu meinem Erscheinungsbild, das sich immer mehr „ausdünnte“ und von dem eigenen Schatten überholt zu werden schien. Aber ich sah mich ja nicht selbst. Ich konnte ja nicht einmal einen Blick in den Spiegel werfen! Ich lebte auch nicht mehr für mich, sondern fast nur noch für meinen schulischen Erfolg. Und natürlich auch, um meinen Körper weiter zu quälen. Selbst mein geliebter Sport trat in dieser Zeit etwas in den Hintergrund, weil es auf diesem Gymnasium keine Möglichkeit der Sportförderung gab und ich überwiegend für mich alleine „trainierte“. Besser gesagt noch am Abend, nach vollbrachtem Lernpensum, mit letzten Kraftreserven meine Runden um den Ort lief.

      Es war auch die Zeit zwischen meinem 17. bis 20. Lebensjahr, in der ich mich mit meiner Sucht immer mehr arrangierte. Ich nahm nicht kontinuierlich ab, um meiner Umgebung, vor allem meinen Eltern, phasenweise eine Besserung vorzutäuschen. Ich trickste mit dem Essen und manipulierte mein Gewicht, indem ich manchmal innerhalb kürzester Zeit literweise Wasser in mich hineinschüttete.

      Und ich tat es nicht mit Fleiß. Es war meine schreckliche Krankheit, der unbeschreibliche innere Druck; meine panische Angst davor, eine Frau werden zu müssen. Doch ich konnte es nicht mehr aussprechen, nach all den schlimmen Erfahrungen, als ich versucht hatte, mich sogar etwas zu öffnen. Die Panik war in mir eingebrannt. Und ich konnte mich nur noch verleugnen und war in ständiger Flucht vor mir selbst. Und das Mittel dazu war mein Körper, der meine falsche Identität vor meinen Augen immer kleiner und ausgehungerter erscheinen ließ.

      Allerdings ein Bild, das nie meiner Zufriedenheit entsprach, da es lediglich dem verzerrten „Leitbild“ meines Gefühls, immer noch zu dick zu sein, entsprach!

      Obwohl ich nicht ungern lernte, wurden viele Tage zu einem regelrechten Martyrium. Von morgens bis abends konzentrierte ich mich auf meine schulischen Aufgaben und forderte mich, indem ich viele zusätzliche Bücher und Fachzeitschriften las, um mir möglichst in allen Fächern ein noch größeres Wissen anzueignen. Und fiel mir etwas schwer, dann wurde seitenweise auswendig gelernt. Andere Hobbys, bis auf mein Laufen, gab es nicht mehr. Ich traf mich auch mit niemandem, da ich dafür keine Zeit mehr hatte. Außerdem mied ich möglichst alle Orte, wo ich in der Öffentlichkeit etwas essen oder trinken musste.

      Ich wurde immer einsamer und merkte es nicht, weil ich mich selbst schon lange verlassen hatte!

      Das Einzige, was mir in meiner schweren Depression im letzten Schuljahr 1996/1997 etwas half, war der Literaturkurs, den ich mir als Wahlfach auswählte.

      Ein einziges Fach, indem ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte und mir meine Verzweiflung von der Seele schrieb. Viele düstere Gedichte (in Prosaform) und Geschichten, die ich aufgrund ihrer „wundersamen“ Vorhersage und Doppeldeutigkeit im Kapitel „2016 bis 2020 – Die härtesten und entscheidendsten Jahre meiner Selbstfindung“ eingefügt habe.

      Doch ein Trost in allem Leid war, dass sich mein Fleiß auszahlte, indem ich mir für meine schulischen Leistungen große Anerkennung erkämpft hatte: Meine Allgemeine Hochschulreife (Wahlfächer: Chemie mit Ernährungslehre