Название | Homer und Vergil im Vergleich |
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Автор произведения | Philipp Weiß |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Classica Monacensia |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300137 |
In Gell. 10, 3Gellius10, 3 steht eine Trias exemplarischer Redner aus drei verschiedenen Generationen im Zentrum der Betrachtung. Das Kapitel kommt ohne narrative Einkleidung der Synkrisis aus, Gellius spricht also in eigener Person. Bei den drei verglichenen Rednern handelt es sich um M. Porcius Cato (234–149 v. Chr.), C. Sempronius Gracchus (153–121 v. Chr.) und M. Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), die Entstehungszeit der Reden, aus denen die behandelten loci entnommen sind, fällt in die Jahre 190 v. Chr. (Cato or. frg. 9 Jordan = 8 frg. 58 ORF2 = frg. 42 Sblendorio Cugusi), 122 v. Chr. (Gracch. or. = 48 frg. 48–49 ORF2) und 70 v. Chr. (Cic. Verr. 2, 5, 161–163). Eine Sonderstellung nimmt Gell. 10, 3 insofern ein, als hier von den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae der einzige Fall vorliegt, wo Gellius ausschließlich lateinische Texte miteinander vergleicht.
Gell. 10, 3 verdient insofern besonderes Interesse, als hier – anders als etwa in Gell. 2, 23 – die literaturgeschichtliche Stellung der behandelten Redner stärker in den Blick gerät. Alle zum Vergleich gewählten loci behandeln dasselbe Thema, die ungerechte Misshandlung römischer Bürger durch römische Magistrate. Die drei Redner versuchen, mit der Schilderung dieses Vorgangs Empörung bei den Zuhörern auszulösen, setzen zu diesem Zweck jedoch unterschiedliche Mittel ein. Gellius stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gracchus und Cicero heraus, indem er sich gegen die Einschätzung stellt, Gracchus sei der „ernstere, heftigere und gewaltigere“ (10, 3, 1: severior, acrior, ampliorque) der beiden Redner. Das allgemeine Urteil über den Stil des Gracchus wird in 10, 3, 4 gefällt. Nach Gellius besteht demnach ein Widerspruch zwischen res und verba, wenn Gracchus einen so schrecklichen Gegenstand „beinahe wie bei Komödienaufführungen üblich“ abhandelt: brevitas sane et venustas et mundities orationis est, qualis haberi ferme in comoediarum festivitatibus solet. Der schlichte, umgangssprachliche Ton, den Gracchus in seiner Rede De legibus promulgatis anschlägt, verstößt damit gegen die Forderung des aptum, den angemessenen sprachlichen Ausdruck für den jeweiligen Gegenstand. Das dabei relevante vitium eines zu niedrigen und unbedeutenden Ausdrucks für eine gewichtige Sache wird in der rhetorischen Terminologie mit den Begriffen humilitas bzw. ταπείνωσις bezeichnet.23 – In den Abschnitten 10, 3, 10–13 werden dann konkrete Vorzüge von Ciceros Darstellung24 benannt, die in das allgemeine Urteil münden (10, 3, 14): Haec M. Tullius atrociter, graviter, apte copioseque miseratus est. Hier wird das aptum also explizit als Beurteilungskriterium herangezogen.
Welche Funkion hat aber der abschließende Hinweis auf Cato (10, 3, 15–19)? Gellius bringt hier in einer beiläufigen Wendung die zeitliche Dimension der behandelten Reden ins Spiel: Wenn jemand das ältere Werk (10, 3, 15: priora) des Gracchus wegen seiner „archaischen“ Eigenschaften – Ungekünsteltheit, Kürze, natürliche Süße etc. – schätzt, soll er sich durch ein noch älteres Werk, nämlich Catos Rede De falsis pugnis (10, 3, 15: M. Catonis, antiquioris hominis), davon überzeugen lassen, dass der Verzicht auf rhetorische Kunstmittel nicht per se als Ausweis altertümlicher Natürlichkeit zu loben ist, sondern schon etwa 70 Jahre vor Gracchus von so herausragenden Rednern wie Cato als Mangel empfunden wurde (10, 3, 15):
Sed si quis est tam agresti aure ac tam hispida, quem lux ista et amoenitas orationis verborumque modificatio parum delectat, amat autem priora idcirco, quod incompta et brevia et non operosa, sed nativa quadam suavitate sunt quodque in his umbra et color quasi opacae vetustatis est, is, si quid iudicii habet, consideret in causa pari M. Catonis, antiquioris hominis, orationem, ad cuius vim et copiam Gracchus nec adspiravit.
Der Hinweis, dass sich Cato bei einem ähnlichen Gegenstand ähnlicher rhetorischer Mittel wie Cicero bedient habe, soll demzufolge zeigen, dass Gracchus in seiner Rede eine rhetorische Option, die zu seiner Zeit durchaus bestand, nicht ergriffen hat, dass sein schmuckloser und unpathetischer Bericht also eine bewusste stilistische Entscheidung darstellt: Intelleget <scil. lector>, opinor, Catonem contentum eloquentia aetatis suae non fuisse et id iam tum facere voluisse, quod Cicero postea perfecit. Damit stellt Gellius die Gültigkeit des Alterskriteriums keineswegs in Frage: Das Beispiel Catos hat ja auch deshalb Gewicht, weil er vor Gracchus geschrieben hat. Gellius führt aber vor, wie zwei ästhetische Prinzipien miteinander in Widerstreit geraten können, nämlich das Wirkungspostulat der Rhetorik – hier die kunstgerechte Erzeugung von Empörung durch den Redner – und die Liebe zur Vergangenheit, die das Alte um des Alters willen schätzt. Indem er differenzierend auf die stilistischen Varietäten innerhalb der archaischen Literatur hinweist, korrigiert er die einseitige Verehrung des Altertums durch den Gedanken, dass die alte Zeit nicht per se nachahmenswert ist, sondern bereits Cato die Mängel in der Redekunst seiner Zeit erkannt und auf eine Verbesserung der rhetorischen Technik hingearbeitet habe.
Zwei weitere Kapitel, Gell. 11, 4 und 17, 10, vergleichen Imitationen griechischer loci (Euripides und Pindar) durch lateinische Dichter (Ennius und Vergil). – Zunächst zu Gell. 11, 4:25Gellius11, 4 Gellius vergleicht hier einen Abschnitt aus der Hekuba des Euripides (Eur. Hek. 293–295) mit seiner Nachbildung durch Ennius (Enn. trag. 73 TrRF = I 165–167 SRPF3): Beide Stellen drücken den Gedanken aus, dass ein hochstehender Mann unabhängig von der Qualität seiner Rede höhere Glaubwürdigkeit besitzt als ein niedrigstehender. An den Versen des Euripides26 lobt Gellius – wieder wird die Synkrisis ohne erzählerische Rahmung präsentiert – die Wortwahl, den Gedanken und die Kürze.27 Die Absichten des Ennius bezeichnet Gellius mit den Termini vertere und aemulari28 und weist anschließend ausdrücklich darauf hin, dass Ennius für seine Übertragung dieselbe Anzahl von Versen benötigt habe.29 Einen qualitativen Unterschied stellt Gellius abschließend in 11, 4, 4 fest, indem er befindet, dass Ennius den Gedanken des Euripides nicht exakt wiedergegeben habe (satisfacere sententiae non videntur), wenn er bei der Übersetzung der Wendung ἔκ τ’ ἀδοξούντων ἰὼν | κἀκ τῶν δοκούντων (scil. λόγος; Eur. Hek. 294b–295a) von ignobiles und opulenti spricht. Ennius lässt also den für die sententia des Euripides notwendigen Aspekt des Ansehens, der nicht unbedingt vom äußerlichen Status bzw. vom Reichtum abhängt, zurücktreten.30 Damit schwächt er aber die Stringenz des Arguments: Euripides koppelt das Ansehen – d.h. die positive Wahrnehmung des Sprechers durch die Zuhörer, die auf der psychologischen Kategorie des ἦθος gründet – mit der rednerischen Überzeugungskraft, Ennius den Stand (ignobiles) bzw. den äußerlichen Wohlstand (opulenti) des Redners mit der Wirkung seiner Rede. Diese Einschätzung hebt die Gültigkeit des allgemeinen Urteils, Ennius habe sein Vorbild „gut“ nachgeahmt (11, 4, 3: Hos versus Q. Ennius … non sane incommode aemulatus est; 11, 4, 4: Bene, sicuti dixi, Ennius), nicht grundsätzlich auf, schränkt es aber in einem Teilaspekt – eben der gedanklichen Stringenz – ein.
Auch in Gell. 17, 10Gellius17, 10 werden zwei Dichterstellen miteinander verglichen; diesmal geht es um Vergil und Pindar, die beide eine eingehende Schilderung des feuerspeienden Ätna in ihre Gedichte aufgenommen haben.31 Vergils Verhältnis zu Pindar wird in 17, 10, 8 als „wetteifernde Nachahmung“ (cum … aemulari vellet) des griechischen „Klassikers“ (veteris poetae) in Betreff der „Gedanken und Worte“ (sententias et verba) gekennzeichnet. Das Urteil fällt negativ für Vergil aus: Der Lateiner hätte, so wird einleitend in 17, 10, 8 festgestellt, eine Stileigentümlichkeit Pindars, nämlich den „überladenen Stil“ (qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), so übertrieben, dass er im Gegenzug in das vitium des Schwulstes verfallen sei (ut Pindaro quoque ipso … insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit). Das Urteil wird dem Favorinus in den Mund gelegt, einer der Lieblingsgestalten bei Gellius.32 Ein narrativer Rahmen wird immerhin angedeutet mit der Angabe, Favorinus hätte sich vor der sommerlichen Hitze in die Villa eines Freundes bei Antium zurückgezogen, wohin auch Gellius und andere nicht näher bezeichnete Zuhörer gekommen seien. Damit ist die Szenerie aber auch schon umrissen; die Ausführungen über Pindar und Vergil sind ganz als Vortrag des Favorinus gehalten und werden durch keine Zwischenbemerkungen der Zuhörer unterbrochen.
Das negative Urteil über Vergils