Название | Homer und Vergil im Vergleich |
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Автор произведения | Philipp Weiß |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Classica Monacensia |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300137 |
Gell. 19, 9 ist keine Synkrisis im strengen Sinne eines Vergleichs von Modell und Nachahmung. Antonius Julianus hätte natürlich auch für einen solchen Vergleich Material in der lateinischen erotischen Literatur finden können – griechische Modelle sind für mindestens zwei der in 19, 9, 11–14 zitierten Gedichte belegt.47 Doch fügt es sich besser in die Verteidigungsstrategie des Julianus, diesen Aspekt der Nachahmung bei den lateinischen Liebesdichtern auszuklammern, verfolgt er in 19, 9 doch offensichtlich die Absicht, die autonomen Qualitäten der lateinischen Lyrik bzw. Elegie gegen die Vorwürfe der Griechen zu betonen.48 Es passt als Ergänzung daher gut, dass Gellius zwei Kapitel später in 19, 11Gellius19, 11 zwei Gedichte desselben Themenkreises, nämlich wieder Liebesgedichte, gegeneinanderhält, diesmal aber mit dem erklärten Hinweis, dass es sich bei dem lateinischen Gedicht (= 345–346 FPL4) um eine Übersetzung bzw. um eine freie poetische Nachbildung handelt: Hoc δίστιχον amicus meus, οὐκ ἄμουσος adulescens, in plures versiculos licentius liberiusque vertit (19, 11, 3).49
Der enge Bezug von Gell. 19, 9 und 19, 11 ergibt sich auch daraus, dass das pseudoplatonische Distichon von 19, 11, 2 nicht nur allgemein der erotischen Poesie zuzurechnen ist, sondern sogar exakt dasselbe Thema wie das letzte in Gell. 19, 9 von Antonius Julianus vorgetragene lateinische Beispiel behandelt. Das Distichon des Catulus, in dem geschildert wird, dass der animus des Liebenden im Geliebten Asyl und Zuflucht findet, lässt sich nämlich als gedankliche Variation des in 19, 11, 2 zitierten pseudoplatonischen Doppelzeilers (= Anth. Pal. 5, 78) – der Kuss als Moment, in dem die ψυχή sich auf den Lippen des Liebenden einfindet, um in den Geliebten überzugehen; vgl. auch die formale Entsprechung in der Metrik – auffassen.50 Damit ergänzt Gellius den Nachweis des Julianus, dass es schon in ältester Zeit eine der griechischen gleichwertige lateinische erotische Poesie gegeben habe, indem er ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit bringt: Der anonyme Dichter der 17 jambischen Dimeter wird als amicus des Gellius eingeführt (s.o.).51 Die Ausführungen von 19, 9 werden in 19, 11 aber in doppelter Hinsicht erweitert, indem nämlich neben der zeitlichen Dimension auch der Aspekt der imitatio angesprochen wird, die in 19, 11 als vollwertiges künstlerisches Produktionsprinzip an die Seite der – vermeintlich – „originalen“ römischen Kleindichtung von 19, 9, 11–14 tritt. Ein detaillierter Vergleich von Vorbild und Nachahmung findet in 19, 11 freilich nicht statt.52
Fasst man abschließend die Merkmale der synkritischen Kapitel der Noctes Atticae zusammen, so ergibt sich eine erhebliche formale und inhaltliche Varianz:
Wie bereits einleitend erwähnt, finden sich sowohl einfache Stellenvergleiche (10, 3; 19, 9; 19, 11) als auch Vergleiche von Modell und Nachahmung, bei denen der Nachahmungsaspekt auch entsprechend gekennzeichnet ist (2, 23; 2, 27; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10).
Hinsichtlich der gewählten Textsorten kommen sowohl historische bzw. rhetorische (2, 27; 10, 3) als auch poetische Texte (2, 23; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10; 19, 9; 19, 11) als Vergleichsgegenstände in Frage.
Nur in Gell. 11, 4 werden ausschließlich lateinische Texte miteinander verglichen; regulär ist der Vergleich von griechischen und lateinischen Stellen.
Die Anzahl der verglichenen Autoren schwankt zwischen zwei (2, 23; 2, 27; 11, 4; 17, 10; 19, 11), drei (9, 9; 10, 3; 13, 27) und vier (19, 9).
Hinsichtlich ihres Umfangs sind die Dichterstellen in versus und loci zu klassifizieren, wobei einzelne Stellen auch repräsentativ für das jeweilige Gesamtwerk aufgefasst werden können (2, 23).
In der Regel wird ein abschließendes Urteil über die verglichenen Stellen gefällt, das meist auch detailliert ästhetisch begründet wird (vgl. aber 19, 9 und 10).
Der Vergleich kann entweder mit (z.B. 13, 27) oder ohne (z.B. 2, 23) Berücksichtigung der literaturgeschichtlichen Stellung der Autoren erfolgen.
Ein narrativer Rahmen, der den Vergleich auch soziokulturell einbettet und gelegentlich auf allgemeinere Fragestellungen – z.B. das Thema des Kulturvergleichs Griechenland/Rom – verweist, kann ausgeführt sein (z.B. 2, 23; 19, 9) oder nicht (z.B. 11, 4).
Trotz dieser Unterschiede wird man den textvergleichenden Einzelkapiteln der Noctes Atticae ihren insgesamt einheitlichen Charakter nicht absprechen. Wieder ist hier der eingangs erwähnte exemplarische Charakter der Einzelkapitel zu berücksichtigen: Gellius geht es weniger darum, einen einheitlichen Gattungstypus zu verwirklichen, als vielmehr die Vielfalt der in Frage kommenden Themen und Methoden bzw. ästhetischen Kriterien beispielhaft vorzuführen. Es lässt sich folglich durchaus mit Berechtigung von der Synkrisis als eigenständiger literaturkritischer Kleinform sprechen, auf die Gellius dann auch zurückgreift, wenn er in zwei Kapiteln seines Sammelwerks Vergleiche zwischen Vergil und dessen Vorbild Homer anstellt.
4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27)
Zwei Abschnitte in den Noctes Atticae thematisieren das Verhältnis zwischen Vergil und seinem Vorbild Homer. In einem, dem kurzen 27. Kapitel des 13. Buches, behandelt Gellius unter dem Titulus De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni zwei nur entfernt vergleichbare Vergilstellen nach verschiedenen griechischen Modellen.1 Bei beiden Stellenpaaren sind jeweils zwei bzw. drei Götternamen, z.T. mit Attribut erweitert, in einem Vers zusammengefasst:
Partheni poetae versus est:Partheniosfrg. 36 ‘Γλαύκῳ καὶ Νηρεῖ καὶ εἰναλίῳ Μελικέρτῃ.’ <frg. 36 Lightfoot = SH 647> Eum versum Vergilius aemulatus est itaque fecit duobus vocabulis venuste inmutatis parem: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae.’Vergilgeorg. 1, 437 <georg. 1, 437> Sed illi Homerico non sane re parem neque similem fecit; esse enim videtur Homeri simplicior et sincerior, Vergilii autem νεωτερικώτερος et quodam quasi ferumine inmisso fucatior: ‘Ταῦρον δ’ Ἀλφειῷ, ταῦρον δὲ Ποσειδάωνι.HomerIl. 11, 728’ <Il. 11, 728> ‘Taurum Neptuno, taurum tibi, pulcher Apollo.’VergilAen. 3, 119 <Aen. 3, 119>
Wenn Gellius gerade Verse von Parthenios und Homer aus dem Kanon möglicher vergilischer Referenztexte2 wählt, so geschieht dies nicht willkürlich, sondern um des exemplarischen Charakters der präsentierten Beispiele willen, der zunächst einmal durch die zeitlichen Verhältnisse gegeben ist: Homer gilt ja als der erste Dichter der Griechen, Parthenios – der angebliche Lehrer Vergils3 – gehört in die unmittelbare Zeitgenossenschaft des Römers. Gellius wählt also die beiden zeitlich am weitesten voneinander entfernten Modelle, auf die Vergil zurückgreifen konnte.
Dass es sich aber nicht nur in zeitlicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht um „Extremfiguren“ handelt, ergibt sich aus einigen Hinweisen auf literaturkritische Diskussionen, wie sie wenige Jahrzehnte vor Abfassung der Noctes Atticae geführt wurden.4 Parthenios erlebte nämlich in der Zeit Hadrians mit ihrer Vorliebe für neoterische Dichtung eine Renaissance.5 Die poetae novelli des 2. bzw. 3. Jhdt. n. Chr.6 optierten ganz nach den Prinzipien der Neoteriker für den feinen, „modernen“ Parthenios und damit gegen großepische Dichtung, wie sie in Gestalt der kyklischen Ependichter seit dem Hellenismus zum literaturkritischen Klischee geworden war. Homer selbst wird dabei zwar nicht kritisiert, homerisierende Großdichtung aber durchaus. Greifbar wird diese Haltung etwa in einem Epigramm der Anthologia Palatina, das dem Dichter Pollianos7 zugeschrieben wird:Anthologia