Название | Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots |
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Автор произведения | Herbert Huesmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | edition lendemains |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300304 |
Im Haus am Meer – Aufklärung und tragisches Ende eines Beziehungsdramas
Die Erzählinstanz nutzt das Treffen im Haus am Meer, um das zwischen den vier beteiligten Figuren entstandene Beziehungsdrama aufzuklären. Die Bedeutung von Raum und Bewegung ist dabei einerseits im Rückblick auf den Aufenthalt Vincents und seiner Schwester in Brasilien von Bedeutung, andererseits im Hinblick auf die von Hugo gewählte Art des Suizids.
Auf das in Brasilien offenbar gewordene und vollzogene inzestuöse Verhältnis zwischen Vincent und seiner Schwester wurde bereits verwiesen. Vincent bekennt sich zu dem Geschehenen gegenüber Hugo in einer umfangreichen Erklärung während eines Spaziergangs, der die beiden vom Strand zurück zu Gilles’ Haus führt.1 Für die Analyse ist entscheidend, ob und ggf. wie Vincent in seiner Erzählung einen Einfluss räumlicher bzw. den Raum prägender Faktoren auf das Geschehene geltend macht.
Vincent und seine Schwester befinden sich an einem Strand in Rio, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich ein Armenviertel befindet. Die aus den Favelas die Hügel hinab-steigenden ausgehungerten Kinder wirken auf die beiden „[…] comme des animaux sauvages pour bondir sur leur proie, mais leur proie, ce n’est qu’un peu de viande à manger, du pain, un peu de sel, n’importe quoi pour remplir le vide […]“2. Als Vincent und „sie“ einen ganz in Weiß gekleideten Mann erblicken, der soeben seinem Segelboot entstiegen ist, die Straße überquert und dann in der Masse der Armen verschwindet, vermuten beide, dass dies seinen Tod bedeutet. Eine Bestätigung haben sie indes nie bekommen. Und in genau diesem Moment setzt eine Entwicklung ein, die Vincent als eine Abfolge schicksalhaft vorbestimmter, unabwendbarer Ereignisse beschreibt:
La même idée nous habitait au même moment et, à quel point un geste peut paraître stupide quand on le dit, nous nous sommes pris la main. C’était la veille de son départ, Hugo. La suite était inévitable, inévitable depuis le commencement, la seule surprise était que ce ne soit pas arrivé plus tôt. Nous avons eu vingt-quatre heures ensemble […] vingt-quatre heures de vérité contre une vie de faux-semblants. Il ne sert à rien de se cacher les choses, tout finit par se découvrir et par arriver, les désirs les plus fous savent attendre leur heure, même le délire a de la patience.3
Unausgesprochen bleibt, weshalb sich Vincent und seine Schwester ihrer – wohl seit langem gespürten – intensiven Zuneigung füreinander in einem Augenblick voll bewusst werden, in dem sie das unmittelbare Nebeneinander von Armut und Reichtum, den Aufeinanderprall zweier Welten erleben. Insinuiert wird, dass der bezeichnenderweise weiß gekleidete und damit Reichtum und vermeintliche Unschuld verkörpernde Mann den hungrigen Kindern, die „[…] la faim mène à tout, au désespoir, au vol, au meurtre […]“, im Schmutz der Favelas zum Opfer fallen wird. Denn „[…] si quelqu’un s’interpose entre le pain et la faim […] il faut l’éliminer.“ (Hervorhebung H.H.)4 Dass das unmittelbare Erleben bzw. Erahnen sozialer Ungerechtigkeit und daraus resultierender Gewaltakte in Vincent und seiner Schwester als Beobachtern den Wunsch nach Schutz und Nähe, Geborgenheit und Liebe weckt, ist plausibel. Naheliegend ist jedoch auch ein durch das binnenreimähnliche phonetische Echo zwischen „le pain“ und „la faim“ hervorgerufener Bezug zwischen der instinkthaft-triebgesteuerten Handlung der qualvoll hungernden Kinder, die den in makellosem Weiß gekleideten Mann aus schierer Verzweiflung töten, und der sich am Strand zwischen den Geschwistern abspielenden Szene, in der sich in einem enttabuisierenden Ambiente ein über Jahre verdrängtes erotisch-sexuelles Verlangen – la faim – triebhaft Bahn bricht. Zur Geltung gelangt somit hier die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung, dass „…Räume und Raumkonstellationen immer auch handlungsauslösende oder -determinierende Faktoren [sind], und zwar allein schon wegen der in und zwischen ihnen stattfindenden Bewegungen“5.
Die Erzählinstanz bedient sich sodann einer raummetaphorischen Bildersprache voll intensiver Emotionalität, um Vincents Verstört- und Aufgewühltsein über den unwiderruflichen Verlust seiner Schwester zum Ausdruck zu bringen.6 Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob „[…] la scène qui le hantait depuis l’accident[…]“7, also der Vollzug der inzestuösen Liebe, eine Fortsetzung gefunden hätte und „sie“ dies gewünscht hätte. Er erinnert sich, dass er sich vor der intimen Begegnung mit ihr täglich darum bemüht hatte, sich der von ihr ausgehenden erotischen Faszination zu entziehen, indem er das sich wie eine „forteresse“ ausnehmende Verhältnis zu ihr nur umkreiste oder sich weit entfernte, um sie nicht zu sehen, die Gedanken an sie zu verdrängen. Dies erwies sich jedoch als ebenso aussichtslos wie der Versuch, „den Horizont zu überschreiten“, und in Brasilien führten alle Wege unweigerlich bis in das Zentrum – vers le cœur – ihrer sich bislang festungsartig verschließenden, sich nun aber öffnenden und frei entfaltenden Beziehung:
[…] car les chemins détournés construisaient la route pour y parvenir, et trouver le pont-levis baissé, les lourdes portes grandes ouvertes, aucun soldat pour garder les salles, avancer avec précaution vers le cœur, portes ouvertes, aucun soldat, avancer encore et enfin la trouver elle, seule, abandonnée, prête à ce qu’elle avait toujours refusé, ignoré – comme lui – prête à prendre au sérieux ce qu’elle feignait de croire un jeu, et lui, Vincent, désemparé par l’évidence, pris au dépourvu, continuait le chemin, avançait […] la rejoignait avec la sensation, dans ses bras, d’être arrivé pour la première fois, l’unique.8
Die Bilderfolge gelangt an dieser Stelle zu einem isotopisch-konsistenten Höhepunkt. Der erinnerte, metaphorisch verfremdete Ort der Begegnung des sich liebenden Geschwisterpaars – la chambre où ils se trouvaient – entzieht sich jeglicher Vorstellung von Realität, sowohl dem geschlossenen Raum der aus der Fantasie der Erzählstimme geborenen „forteresse“ als auch der als grenzenlos gedachten Welt:
Les portes lourdes se refermaient d’un coup brutal. La forteresse était coupée du monde, comment tant de chemins comment tant de détours avaient pu y mener, et la chambre où ils se trouvaient était coupée de la forteresse coupée du monde.9
Man muss sich Vincent im Haus am Meer als einen einsamen, trauernden Menschen vorstellen, der sich verzweifelt fragt „[…] pourquoi son avion, à une semaine de distance, n’avait pas eu la même défaillance, comme ils disaient, au-dessus de l’océan, pourquoi pas le sien, si elle était restée, au lieu de lui, que penserait-elle, à sa place, quels regrets?“10
Das Treffen am Meer bahnt Hugo, der die Frage François’: „Tu l’aimais?“ für alle hörbar mit „Oui“11 beantwortet, den Weg zum Suizid.12 Die Erzählinstanz wählt für das tragische Ende einen angesichts des Ortes der Handlung im Wortsinn naheliegenden, vor allem aber eine den Gefühlen und Sehnsüchten Hugos im höchsten Maße entsprechenden Ausgang. So beginnt der letzte Abschnitt des Schlusskapitels – Presto – mit den Worten:
Hugo se releva […] il avait besoin de la mer. […] Quelle heure pouvait-il l’être, il s’en moquait, midi, une heure, deux heures, il était en retard, mais en retard pour quoi, il n’avait pas l’intention de revenir. Le soleil était haut, il entendait la rumeur de la mer et le reste – le reste n’existait pas.13
Hugo nähert sich dem Meer und befindet sich „[…] à la limite des terres et de l’océan bleu“14 – eine Formulierung, die sofort die Erinnerung an „ihre“ Augenfarbe wachruft und darüber hinaus eine gedankliche Verbindung zum Flugzeugabsturz über dem Atlantik evoziert. Hugo erinnert sich an sein letztes Telefonat und Treffen in einem Café mit „ihr“ und wirft sich vor, „sie“ nicht vor der Nähe Vincents bewahrt und von der Reise nach Brasilien zurückgehalten zu haben. Als er schließlich den Ruf „Hugo“ vernimmt, fragt er sich: „[…] était-ce elle encore, déjà?“15 Als ob er von „ihr“ gerufen würde, scheint er ihr geradezu entgegengehen zu wollen, um zumindest im Tod für immer mit „ihr“ vereint zu sein. Dabei lässt die Erzählinstanz in der Schwebe, ob er das Rufen seiner Gefährten noch wahrgenommen hat:
Hugo!