Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

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Название Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots
Автор произведения Herbert Huesmann
Жанр Документальная литература
Серия edition lendemains
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300304



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ihrer zwischen „[…] l’ivresse d’errance et la gravité du destin“ bzw. „[u]ne liberté extrême, une solitude infinie“5 schwankenden Emotionalität. Wenn sie sich daher „[…] en exil de [sa] vie, de lui […] et elle“ sieht, so bedeutet dies – am Ende einer einjährigen Klärungsphase – „[…] que c’était terminé“ 6. Sie erlebt den Abschied von ihrem bisherigen Leben als eine Zeit des Rückzugs und Sich Verschanzens, des „[…] se barricader, se retirer sur ses terres, dans ses meubles, ne pas oublier de verrouiller les portes pour être sûr de verrouiller les cœurs“7. Für sie, die „le large, la navigation“ liebt und von sich selbst sagt „[…] que rien nulle part ne [la] retenait, dans aucun pays, ni celui que j’allais quitter ni celui où j’allais arriver. Une liberté extrême, une solitude infinie.“8, scheint diese Form der Immobilisierung und Abschottung zunächst den Verzicht auf jegliche Form einer „terre promise“ oder, anders gewendet, eine neue Art des selbstgewählten Exils zu bedeuten. „Beweglich“ hingegen sind die Schriftsteller, die über Exil sprechen, nicht im politischen Zentrum des Landes, sondern in einer grenznahen Stadt, um politischer Einflussnahme zu entgehen und grenzüberschreitendes Denken, das auch zur Aufgabe der Heimat führen mag, zu praktizieren. Unklar bleibt allerdings nicht nur, um welche Grenze es sich handelt, sondern auch, warum die Schriftsteller das Thema zu diesem Zeitpunkt aufgreifen. Ohne dass der Text einen Beleg dafür liefert, mag man – angesichts der spezifischen historischen Situation – nicht ganz ohne Grund spekulieren, dass die Erzählerin an Schriftsteller denkt, die – an der Grenze zwischen den ehemals getrennten Teilen Deutschlands – für einen „dritten“ gesellschaftlichen Weg plädieren und sich aus diesem Grunde von der Hauptstadt an die Peripherie begeben. Dies entspräche der Lotman’schen Theorie von der Ambivalenz der Grenze, die nicht nur trennt, sondern auch verbindet und zwischen den Kulturen der aneinander grenzenden Semiosphären vermittelt.9

      2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung

      Die Frage, ob die Erzählerin, die nicht von einem festen Ausgangspunkt, sondern schwimmenderweise über ihr Leben reflektiert, als eine im (frühen) Lotman’schen Sinn „bewegliche“, also die Grenze zwischen „disjunkten Räumen“ überschreitende Figur betrachtet werden kann, erfordert eine differenzierte Antwort. Ohne sich auch nur ansatzweise in expliziter Form mit den Moral- oder Wertvorstellungen der Gesellschaft, in der sie lebt, auseinanderzusetzen, betrachtet sie ihr eigenes Sexualverhalten als eine „transgression“. Sie überschreitet also eine, wie sie zu glauben scheint, durch anerkannte Normen gesetzte Grenze. Diese Wertung erfolgt unter Bezugnahme auf die durch die Erzählerin implizit vorgegebenen Normvorstellungen. Sie möchte sich als bisexuell lebende Frau jedoch aus ihrer Notlage befreien, indem sie sich in eine topographisch symbolisierte Äquidistanz zu beiden Geschlechtern begibt. Der ihren Wünschen gerecht werdende Ort liegt in in der Nähe von Quito, der Hauptstadt Ekuadors. Ungefähr zwanzig Kilometer nördlich befindet sich ein „La mitad del mundo“ genanntes Denkmal, an dem eine gelbe Linie den Äquator und damit den, wie man bei der Errichtung des Denkmals annahm, exakt gleichen Abstand zum Nord- und Südpol markiert.1 Wenn sie in diesem Kontext an Touristen denkt „[qui] se font photographier un pied de part et d’autre, un pied dans chaque hémisphère“2, verdeutlicht dieses Bild ihre illusionäre Wunschvorstellung eines durch eine „naturgegebene“ Linie normierten, quasi legalisierten Verhaltens. Somit ist es gerechtfertigt, ihren – nicht realisierten – „désir d’Équateur“ als eine angestrebte Form der Grenzüberschreitung im Lotman’schen Sinn zu betrachten, insofern ihr Ausgangs- und ihr Zielort zwei nach ihrer Vorstellung unterschiedlichen Wertvorstellungen verpflichtet sind. Da sie jedoch am ersten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer die Beziehungen zu „ihr“ und „ihm“ beendet, scheint sie auf den ersten Blick zu einer „unbeweglichen Figur“ geworden zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch im Lichte des Romanendes zu relativieren, insofern ihr „désir d’Équateur“ keineswegs erloschen ist, vielmehr in ihren Träumen weiterlebt. So mag man angesichts des Erscheinungsdatums des Romans (1995) und der damals allgemein vorherrschenden Intoleranz gegenüber „besonderen“ sexuellen Orientierungen durchaus vermuten, dass die autodiegetische Erzählerin in Le Désir d’Équateur mit diesem von ihr nicht für realisierbar gehaltenen „Wunsch“ (auch) die Hoffnung auf eine Änderung der Haltung der Gesellschaft gegenüber dieser Frage zum Ausdruck bringt, ohne dass der individuelle Charakter ihrer Suchbewegung in Frage gestellt wird.

      2.3 Mariane Klinger1 – Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt

      Die Vordergrundhandlung ist auf einen einzigen Schauplatz, die legendäre Queen Mary2, den Ozeandampfer, mit dem Mariane Klinger innerhalb von sechs Tagen von New York nach Southampton reist, konzentriert. Aufgrund der Bewegung des Schiffes auf ein bestimmtes Ziel hin ist der Rückweg Mariane Klingers von den USA nach England in Anlehnung an K. Lewin und O.F.Bollnow durchaus als hodologischer Raum bzw. als „Wegeraum“ zu bezeichnen, obwohl der Begriff i.d.R. nicht auf Seewege bezogen wird.3 Für die Frage nach der Funktion von Raum und Bewegung für die Handlungsweise der Figuren, insbesondere der nach einer Neuorientierung ihres Lebens suchenden Titelheldin, ist dies bedeutsam, da ihr Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht von einem fixen, unbeweglichen Punkt, sondern von einem sich stetig auf ein Ziel hin bewegenden Schiff seinen Ausgang nimmt.

      Für Mariane Klinger, die sich die Zeit im Rückblick verräumlicht als eine Kreuzung unterschiedlicher Straßen und Flüsse vorstellt, ihre ihr aufgezwungene Wahlheimat in New York fluchtartig verlassen hat und nicht weiß, ob sie ihren Sohn verloren hat, bedeutet sein Verschwinden eine todesähnliche Erfahrung.4 Vor diesem auch durch andere Faktoren belasteten persönlichen Hintergrund und angesichts der chronotopischen Bedingungen vier Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs ist ihre Suche nach einem neuen Leben in der Alten Welt nicht vergleichbar mit ihrem abenteuerlichen, von großen Hoffnungen begleiteten Aufbruch in die Neue Welt im Jahre 1929.

      Im Rahmen einer summarischen, die wesentlichen Leitfragen (B 1.2) integrierenden Analyse soll die Suchbewegung Marianes transparent dargestellt werden. Die Erinnerungen und die Zukunftsplanung der Protagonistin werden durch örtliche Fixpunkte oder zumindest durch grobe Zielvorstellungen gelenkt. Die von ihr reflektierte Vergangenheit gliedert sich in ihre der Abfahrt nach New York vorausgehende Zeit in ihrer Heimat Heidelberg und die Hinreise nach New York einerseits und die zwanzig in den USA verbrachten Jahre andererseits. Ergänzt wird die Retrospektive durch Reflexionen über Gegenwart und Zukunft.

      2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York

      Die Erzählinstanz widmet Heidelberg als der Herkunftsstadt Marianes und ihrer Freundin Judith nur wenige Zeilen, die sich gleichwohl im Tenor deutlich unterscheiden.1

      Im ersten und zweiten Kapitel erscheint die Stadt im Kontext der Erinnerungen an die Abfahrt. Hier ist zu erfahren, dass die beiden Mädchen nur wenige Häuser voneinander entfernt in derselben Straße wohnten2 und gelegentlich die Neckarbrücke überquerten „[…] pour parvenir jusqu’au chemin des philosophes et là, en voyant les ruines du château sur l’autre rive veiller sur la ville comme un memento mori, elles se racontaient la vie qu’elles imaginaient, des voyages et des rêves“3. Das „romantische“ Heidelberg wird auf diese Weise konnotiert mit einer Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Seins, zugleich aber auch mit den Zukunftsplänen und -träumen Marianes und Judiths, die durch den Anblick der Schlossruine nicht nur nicht unmöglich gemacht, sondern sogar angeregt werden. Die Zeugnisse der Vergangenheit fungieren in der Gegenwart als Brücken in die Zukunft. Positive Erwartungen weckt überdies der Neckar. Wenn die Mädchen sich auf dem Philosophenweg in südlicher Richtung auf seine Quelle zu bewegten, wandten sich ihre Gedanken und Träume gleichwohl in die umgekehrte Richtung, weit über jenen Punkt hinaus, an dem der Fluss bei Mannheim in den Rhein einmündet. Es scheint, als ob sich ihr Aufbruch in die Ferne, aber auch ihre Suche nach einem eigenen Weg bereits am Horizont abzeichneten:

      Remontant vers la source, le fleuve approchait de la mer pourtant, s’élargissait, et les bateaux convergeaient, plus nombreux, pour aboutir au port où les chantiers navals construisaient les paquebots qui viendraient hanter d’autres mers, habités de passagers à la recherche d’eux-mêmes et de fuites, émigrants, voyageurs.4