Название | Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie |
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Автор произведения | Erich Auerbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772000669 |
All diese Zusammenhänge waren dem mittelalterlichenMittelalter Leser spontan erkennbar, denn er lebte in ihnen; die Vorstellungen von vordeutender und nachahmender Wiederholung waren ihm so geläufig wie etwa einem heutigen Leser der Begriff der geschichtlichen Entwicklung; stellte man sich doch sogar das Erscheinen des Antichrist als eine genaue, aber trügerische Wiederholung des Erscheinens Christi vor. Uns ist das spontane Verständnis dieser Geschichtsauffassung verlorengegangen, wir sind genötigt, sie durch Forschung zu rekonstruieren. Aber an ihr entzündete sich DantesDante Inspiration, deren Glut wir noch zu fühlen vermögen; trotz unserer Abneigung gegen Allegorien ergreift uns im elften Gesang des Paradiso die Wirklichkeit des Lebendigen; eines Lebendigen, das nur hier, in den Versen des Dichters, noch lebt.
Figurafigura (1938)
I. Von TerenzTerenz bis QuintilianQuintilian
Figura, vom gleichen Stamme wie fingerefingere, figulusfigulus, fictorfictor und effigies, heißt nach seiner Herkunft «plastisches Gebilde» und findet sich zuerst bei TerenzTerenz, der Eun. 317 von einem Mädchen sagt: nova figura oris. Etwa aus gleicher Zeit dürfte das PacuviusPacuviusfragment 270/1 (RibbeckRibbeck. O., Scaen. Roman. Poesis Fragm. I, S. 110) stammen:
Barbaricam pestem subinis nostris optulit
Nova figura factam ….1
Es ist wahrscheinlich, daß PlautusPlautus das Wort nicht gekannt hat; er verwendet zweimal ficturafictura (Trin. 365, Mil. 1189), freilich beide Male in einem Sinne, der eher die Tätigkeit des BildensSensuslehre als ihr Ergebnis ausdrückt; fictura wird später sehr selten.2 Mit der Erwähnung des Wortes fictura werden wir sogleich auf eine Eigentümlichkeit von figurafigura hingewiesen: es ist (Ernout-MeilletMeillet, A.Ernout, A., Dict. étym. de la langue latine, p. 346) unmittelbar vom Stamm abgeleitet, nicht, wie naturanatura und andere gleicher Endung, vom Supinum. Man hat dies aus einer Angleichung an effigieseffigies (StolzStolz, F.-SchmalzSchmalz, J. H., Lat. Gramm., 5. Aufl. S. 219) erklären wollen: jedenfalls drückt sich in dieser besonderen Bildung des Wortes etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes aus, und jedenfalls liegt in ihr eine hohe Eleganz der lautlichen Erscheinung, die viele Dichter bezaubert hat. Daß die beiden ältesten Belege uns nova figura bieten, kann ein Zufall sein; bedeutsam, auch wenn es ein Zufall ist, da das neu Erscheinende, sich Wandelnde am Beständigen der ganzen Geschichte des Wortes das Gepräge gibt.
Diese Geschichte beginnt für uns mit der Graezisierung der römischen Bildung im letzten vorchristlichen Jahrhundert, und an ihren Anfängen haben drei Schriftsteller entscheidenden Anteil: VarroVarro, LucrezLukrez und CiceroCicero. Freilich können wir nicht mehr genau bestimmen, was sie aus dem verlorenen früheren Bestande übernommen haben; allein der Beitrag von LucrezLukrez und von CiceroCicero ist so eigentümlich und jeweils so selbständig, daß man ihnen ein hohes Maß von eigener Bedeutungsschöpfung zutrauen muß.
VarroVarro besitzt solche Selbständigkeit am wenigsten. Daß bei ihm figurafigura zuweilen «äußere Erscheinung», ja «Umriß» heißt,3 also sich von seinem Ursprung, dem engeren Begriff des plastischen Gebildes, loszulösen beginnt, scheint ein allgemeiner Vorgang gewesen zu sein, auf dessen Ursachen wir noch zurückkommen. Bei Varro ist diese Entwicklung nicht einmal sehr ausgeprägt. Er ist Etymologe, der Ursprung des Wortes ist ihm bewußt (fictor cum dicit fingo figuram imponit, de ling. lat. 6, 78), und so enthält das Wort, wo er es von Lebewesen und Gegenständen gebraucht, zumeist eine plastische Vorstellung. Wie weit sie noch wirksam war, ist zuweilen schwer zu entscheiden; so etwa, wenn er sagt, daß man beim Kauf von Sklaven nicht nur die figura berücksichtige, sondern auch die Eigenschaften, wie bei Pferden das Alter, bei Hähnen den Zuchtwert, bei Äpfeln das Aroma (ib. 9,93); oder wenn er von einem Stern sagt, er habe colorem, magnitudinem, figuram, cursum verändert (Zitat bei AugustinAugustinus, de civ. Dei 21, 8); oder wenn er de ling. lat. 5, 17 gegabelte Palisadenpfähle mit der figura des Buchstabens V vergleicht. Ganz unplastisch wird es, sobald von Wortformen die Rede ist. Wir haben, so etwa sagt er de ling. lat. 9, 21, von den Griechen neue Formen der Gefäße übernommen; warum wehre man sich gegen neue Wortformen, formae vocabulorum, als seien sie giftig? Et tantum inter duos sensus interesse volunt, ut oculis semper aliquas figuras supellectilis novas conquirant, contra auris expertes velint esse? Hier liegt der Gedanke, daß es auch für den GehörssinnSensuslehre Figuren gebe, schon sehr nahe; zudem muß man wissen, daß Varro, wie übrigens alle lateinischen Autoren, die nicht als philosophische Spezialisten eine genaue Terminologie besitzen, figurafigura und formaforma im allgemeinen Gestaltsinn unbedenklich durcheinander verwenden. Eigentlich heißt forma «Gußform», französisch moule, und steht also zu figura in dem Verhältnis der Hohlform zu dem aus ihm hervorgehenden plastischen Gebilde; doch ist bei Varro nur selten etwas davon zu spüren, allenfalls vielleicht in dem Fragment bei GelliusGellius 111, 10, 7: semen genitale fit ad capiendam figuram idoneum.
Die eigentliche Neuerung und Verwischung des ursprünglichen SinnesSensuslehre, die man zuerst bei VarroVarro trifft, liegt auf dem grammatischen Gebiet; wir deuteten es schon oben an. Bei Varro zuerst finden wir figurafigura als grammatische Bildung, Ableitung, Flexionsform. Figura multitudinis heißt bei ihm die Form des Plurals, alia nomina quinque habent figuras (9, 52) bedeutet: andere Substantiva haben 5 Deklinationsformen. Dieser Gebrauch hat eine bedeutende Wirksamkeit gehabt (vgl. ThLL, figura III A 2 a col. 730 und 2 e col. 734); formaforma ist ebenfalls im gleichen SinneSensuslehre viel verwendet worden, schon