Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Daniel de Roulet

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Название Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Автор произведения Daniel de Roulet
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551249



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bringen. Die würden die Rädchen, Ritzel, Gehäuse und Zifferblätter zusammensetzen, die über hundertzwanzig Teile, die nötig waren zur Herstellung jener Uhren, die sie in ganz Europa verkauften.

      Zur Zeit der Ereignisse von 1851 war Mathilde noch nicht geboren. Als 1867 ihr Vater starb, war sie elf Jahre alt. Da ihre Mutter die Trauer um ihren Mann nicht überlebte, kam die zur Vollwaise gewordene Mathilde nach Saint-Imier zu einer Krankenschwester, einer ehemaligen Arzthelferin ihres Vaters. Mathilde, das Nesthäkchen der Familie, war auch die jüngste der zehn künftigen Emigrantinnen. Einige von ihnen kannten sich schon aus der Mädchenschule. Manche hatten alle Schuljahre absolviert, andere nur einen Teil und waren mit vierzehn in die Lehre gegangen. Die, die an entlegenen Orten wohnten, mussten in die Nähe des Dorfes ziehen, kamen dort bei Verwandten unter oder in Pension.

      In der Uhrmacherei wechseln Höhen und Tiefen einander ab, oft muss man die Zähne zusammenbeißen und auf den nächsten Aufschwung warten. Eine Revolution in Deutschland, ein zweiter Kaiser in Frankreich, eine Sezession in den Vereinigten Staaten, ein Streit in Konstantinopel, und unsere Väter standen ohne Arbeit da. Sogar ein alter Krieg zwischen Katholiken und Protestanten bei uns in der Schweiz hatte einmal alle Uhrmacher arbeitslos gemacht. Nach den Ereignissen von 1851 belebte sich die Konjunktur wieder. Die Väter konnten ihre Berufe mit den klangvollen Namen wieder ausüben: Guillocheur, Gehäusefedermacher, Graveur oder Zifferblattmaler. Und unsere Mütter konnten auf dem Herbstmarkt der nächstgelegenen Stadt La Chaux-de-Fonds einkaufen gehen. Es gab genug Milch, die Kinder gingen nicht mehr mit leerem Magen ins Bett. Vater Grimm sagte zu seinen Töchtern, es werde nie mehr eine Mehltauepidemie oder eine Hungersnot geben.

      Pfarrer Agassiz hatte seinem ältesten Sohn einen Erbvorbezug gewährt. So konnte dieser sich mit dreiundzwanzig Jahren am Platz neben der Kirche ein Uhrmachercomptoir einrichten. Auguste kümmerte sich um die Endmontage der Uhren und verkaufte sie bis nach Portugal und Russland. Im Dorf müssen die Pfarrerskinder immer mit gutem Beispiel vorangehen, be­sonders das älteste. Augustes gutes Beispiel bestand da­r­in, reich zu werden. Bei der Geburt unserer Großeltern zählte Saint-Imier vierhundert Einwohner. Inzwischen waren wir sechstausend und würden bald achttausend sein.

      Unsere Väter arbeiteten sechs Tage die Woche und kamen abends spät nach Hause, außer samstags, da kamen sie um sechs. Die Familien waren kinderreich, in vielen gab es bis zu zehn Geschwister. Der Pfarrer stellte fest, dass der liebe Gott im Durchschnitt eines von fünf Kindern im ersten Lebensjahr zu sich holte. Die Bestattung war eine kurze Sache. Das nächste Kind bekam den Namen dessen, das nicht überlebt hatte. Von nun an war alles auf Fortschritt ausgerichtet. Eines Tages würde es keine Armen und keine Kriege mehr geben. Das glaubten jedenfalls unsere Eltern. Valentine, Ihre Berichter­statterin, konnte sich nicht vorstellen, dass ein Säugling wie ihr kleiner Bruder wieder auferstehen sollte.

      In unseren Mädchenklassen lernten wir Nähen, Hauswirtschaft, die Prinzipien der Milchsäuregärung, aber weder die Geografie fremder Länder noch das Schießen oder die Tischlerei. Das wurde nur in den Knabenklassen unterrichtet. Als Mädchen gewöhnten wir uns an, zusammenzuhalten, auch später als Frauen, ohne allzu viel Konkurrenz.

      Selbst wenn jede von uns ihren eigenen Dingen nachging, verloren wir uns nicht aus den Augen. Einige waren gerade vom Pfarrer konfirmiert worden, andere hatten schon einen festen Freund, zum Beispiel Blandine Grimm. Die einen malten sich die Lippen an und puderten sich die Wangen, die anderen fanden, man dürfe nicht provozieren.

      Was Blandine betraf und da es bei den Grimms nur Mädchen gab, meinte der Vater, die Älteste müsse für ihre Schwestern ein Vorbild sein, sonst würden die Jüngeren, so sagte er, zu schamlosen Ludern. Blandine mach­te nur Unsinn, wozu Valentine aber nichts konnte. Blandine war Zusammensetzerin, Valentine machte gerade eine Lehre als Verstifterin-Zentriererin. Die Große hantierte mit Robustem, die Kleine brauchte Fingerspitzengefühl, um auf der Achse des Pendels, wo die Spirale mit einem Sperrstift befestigt wird, einen gespaltenen Zy­linder zu justieren. Nicht so einfach, gleich nach einer Schwester wie Blandine zu kommen. Freundinnen sucht man sich aus, Schwestern nicht.

      Auf dem Schiff nach Amerika würden wir später einen englischen Satz lernen, der in dem Lied Ten Little Injuns vorkommt. Am Anfang sind sie vollzählig, dann stirbt oder verschwindet in jedem Refrain eines. Ganz zum Schluss heißt es:

      and then there were none

      da war’n sie alle futsch

      Auch wir waren anfangs zehn. Mathilde, die jüngste der zehn kleinen Negerinnen, sagte, eines Tages würden wir eine Reise um die Welt machen und irgendwann als alte Frauen wieder nach Hause kommen. Dann würden wir eine Versammlung einberufen, uns auf den Tisch stellen, unsere Lebensgeschichten erzählen und dabei so wenig wie möglich lügen. Nachdem wir richtig Stimmung im Saal gemacht hätten, bekämen wir von allen Seiten Applaus. Und würden vom Tisch springen. Und uns alle ein Bein brechen, sagte sie noch. Wir mussten ganz schön lachen bei der Vorstellung, wie wir als alte Frauen auf einem Tisch stehen und von unseren Reisen erzählen würden wie Jean-Jacques Rousseau in Die neue Héloïse, wo Saint-Preux eine abenteuerliche Reise zur Juan-Fernandez-Insel unternimmt. Mit dieser Insel haben wir damals, wie Sie sehen werden, genau ins Schwarze getroffen.

      ZWEITES KAPITEL

      in dem COLETTE UND JULIETTE, zwei ­ineinander verliebte junge Uhr­macherinnen, als Erste beschließen, nach ­Amerika auszuwandern, dort aber ein ­trauriges Schicksal erleiden.

      Unsere Eltern glaubten an den Fortschritt, denn im Schweizer wie im französischen Jura florierte die Uhrenindustrie. Édouard Heuer hatte neben der Kirche eine Uhrenfabrik eröffnet. Und Léon Breitling an der Place Neuve. Le Jura bernois, die Tageszeitung von Saint-Imier, kündigte den Bau einer Eisenbahnlinie an, die bis ins Tal führen und uns erlauben würde, Genf an einem einzigen Tag zu erreichen. Der Telegraf wurde eingeweiht. Wenig später stellte ein öffentlicher Regulator in der Vorhalle der Post alle Uhren auf dieselbe Uhrzeit ein.

      Die große Neuerung kam, als Francillon, der Ge­schäftspartner von Auguste, beschloss, eine Fabrik zu er­öffnen, in der sämtliche Teile einer Uhr unter einem Dach hergestellt würden, also eine Manufaktur. Dafür wählte er ein Gelände tief im Tal, an einem Ort namens Longines. Er nutzte das Wasser der Suze, ließ eine große Halle bauen, in die durch eine Fensterreihe Licht fiel, kaufte Drehbänke, Bohrer, Walzwerke, schwere Gesenke und nummerierte Meißel und holte einen aus Amerika heimgekehrten Uhrmacheringenieur dazu. Dieser stellte mehrere Werkmeister ein, die die Hilfsarbeiter anleiteten, darunter auch einige von uns Mädchen. Unsere Eltern ermunterten uns, in die Uhrmacherei zu gehen.

      Trotz des Wechsels zur Manufaktur gab es Höhen und Tiefen, weshalb viele von uns oftmals ganz plötzlich entlassen wurden. Liefen die Geschäfte schlecht, kehrten wir zu unseren Eltern zurück. Vater Grimm fand sich damit ab: Nicht der Unternehmer sei schuld, sondern die Konjunktur. Andere verfielen der Trunksucht, schliefen jeden Montag ihren Absinthrausch aus, weil, so sagten sie, das Elend den Säufer mache und nicht umgekehrt. Unsere Väter aber wollten daran glauben, dass die Industrie uns am Ende Glück bringt. Von wegen!

      Die Heimwerkstätten verschwanden, jetzt verkauften wir uns für drei Franken pro Tag, wo doch schon die Mittagskantine fünfundfünfzig Rappen kostete. Wir verdienten ein Viertel weniger als die Männer. Keine von uns wäre jemals, falls sie es überhaupt gewollt hätte, eine Vorgesetzte geworden. Die Unternehmer wollten uns geschickt, geduldig, gründlich. Untereinander redeten wir über die Liebe. Darüber, wie man merkt, ob es die wahre ist, wie man ihr zur Blüte verhilft, wie lange sie hält. Uns fehlte es an Erfahrung. Die Mädchen, die schon Abenteuer erlebt hatten, traurige oder fröhliche, sagten, dass das Herz geht, wohin und wann es will. Selbst mit den besten Vorsätzen sei es unmöglich, einem Kuss zu widerstehen. Manche, zum Beispiel Valentine, hatten noch nie einen Jungen geküsst. Eine wie Adèle mit ihren schönen roten Haaren hatte schon mehrere ausprobiert, und als sie schwanger wurde, weigerte sie sich, zur Engelmacherin zu gehen. Sie musste sich al­lein um die kleine Clémence kümmern. Andere wollten nicht darüber sprechen. Und eine sagte, wenn man zum Tanz gehe, müsse man aufpassen, dass man nicht von einem Kuss auf den Mund schwanger würde, aber das war nur Spaß, sie meinte das, was wir alle eines Tages machen würden. Aber nicht irgendwie und mit irgendwem. Die einen wussten aus sicherer