Die Steuersünder. Peter Mathys

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Название Die Steuersünder
Автор произведения Peter Mathys
Жанр Языкознание
Серия TatortSchweiz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919022



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geschnitten und straff nach hinten gekämmt. Darunter traten starke Backenknochen hervor, und trotz eines sorgfältigen Makeups waren bei beiden Augen Krähenfüsse sichtbar, und tiefe Falten zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinab. Die grauen Augen blickten streng, und das breite Gesicht wirkte gehetzt und müde. Der Anwalt schätzte sie auf Mitte vierzig.

      Sie saß kerzengerade auf der Kante ihres Stuhls, die Unterarme auf den Tisch gestützt, und suchte nach einem Anfang. Sie sagte: «Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.»

      Kellenberger lächelte schwach. «Das fiel mir leicht, als ich Ihren Namen und Ihr Stichwort hörte.»

      «Sie haben meinen Mann bei einer Bank in Vaduz eingeführt und ihn bei einer geschäftlichen Angelegenheit beraten. Das stimmt doch?»

      Der Anwalt schüttelte den Kopf. «Ja und nein. Ja, ich habe Herrn Matter bei der Universal Bank eingeführt; und nein, ich habe ihn nicht als Mandanten beraten. Wäre er mein Klient, wäre unser Gespräch bereits beendet. Warum kommen Sie zu mir, Frau Matter?»

      Die Frau gab sich einen Ruck. «Mein Mann hat mich vor ein paar Tagen Hals über Kopf verlassen. Dabei vergaß er einen Umschlag mit Papieren der Bank aus Vaduz. Neben einem Brief der Direktion – darin werden Sie erwähnt – lagen drei Gutschriftanzeigen über fast vier Millionen Franken im Umschlag. Wir haben nicht so viel Geld, Herr Dr. Kellenberger. Ich möchte wissen, was los ist. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen. Unsere Ersparnisse betragen etwas über hunderttausend Franken. Und wir haben einen vierzehnjährigen Sohn, dem ich nicht erklären kann, weshalb sein Vater verschwunden ist. Das ist das Schlimmste an der ganzen Geschichte.»

      «Steht auf den Belegen, woher die Zahlungen kommen?», fragte Kellenberger, weil ihm nichts anderes einfiel.

      «Ja. Von einem Dr. Hubert Huber und einem Paul Regenass, beide aus Basel, ich habe sie im Telefonverzeichnis gefunden, und einer Plus-Minus AG.»

      «Hm.»

      Wie auf Knopfdruck spulte Kellenbergers Erinnerung den Film seiner Begegnungen mit Herbert Matter ab: die beiden Gespräche im Büro bei der Steuerverwaltung am Fischmarkt, die kurze Sitzung hier im selben Konferenzzimmer, in dem jetzt seine Frau nach Antworten suchte. Dann der Schock, dass seine Assistentin mit Matter gemeinsame Sache machte. Er fragte:

      «Wissen Sie, warum Ihr Mann Sie verlassen hat? Eine andere Frau?»

      Sylvia Matter schluckte. «Er hat gesagt, er halte es nicht mehr aus, er brauche endlich seine Freiheit. Ob eine Frau im Spiel ist? Ich weiß es nicht. Aber man kann es wohl nicht ausschließen, nach zwanzig Ehejahren, nicht wahr?»

      «Nein, das kann man nicht.»

      Der Anwalt versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war froh, dass Matters Frau zuerst zu ihm gekommen war. Die Namen Regenass und Huber sagten ihm nichts. Aber offensichtlich waren sie ebenfalls erpresst worden. Wenn Sylvia Matter sie aufsuchte, flogen die Gaunereien ihres Mannes höchstwahrscheinlich auf. Es war unverkennbar, dass sie vor den großen Geldbeträgen Angst hatte.

      Wenn sie Anzeige erstattete, ließen sich auch die Steuerhinterziehungen – er nahm an, dass Huber und Regenass sich in derselben Lage befanden wie er – nicht mehr geheim halten. Er begriff, dass seine Besucherin mit äußerster Sorgfalt zu behandeln war.

      «Darf ich fragen, woher Sie meinen Mann kennen?», wollte sie wissen.

      Kellenberger nickte. «Er ist für die Bearbeitung meiner Steuererklärungen zuständig.» Die Höflichkeit der Frau stand in krassem Gegensatz zur forschen Aufdringlichkeit ihres Mannes.

      «Und wie kommt es, dass Sie ihn bei einer Bank in Vaduz einführten?»

      «Er hat mich darum gebeten.»

      «Um was geht es bei seinen Geschäften?» Die Frau zögerte, dann setzte sie leise hinzu: «Ich kann nicht glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht.»

      «Ich verstehe Sie.»

      Der Anwalt stand auf und trat zum Fenster. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und ließ den Fluss noch goldbraun und teilweise bereits dunkelgrau schimmern. Einige Lichter vom gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich darin; es sah aus wie ein kleines Sternenmeer. Er dachte an seine Jugend, wie alles noch harmlos war, wie er als Student mit einem Buch an der Böschung des Flusses gelegen hatte, Vorlesungen, Zukunft und alles andere vergessend. Das Buch hieß «Die Weisheit des lächelnden Lebens» von Lin Yutang, einem chinesischen Philosophen. Das schönste Kapitel handelte vom Genuss guten Essens. Der Autor beklagte die Unsitte westlicher Männer, ihren Bauch mit einem Gurt einzuschnüren, wo doch die lose hängenden Gewänder der Chinesen der Entfaltung der Leibesfülle viel mehr Spielraum boten.

      Kellenberger verscheuchte die Reminiszenz an eine entschwundene Zeit und wandte sich wieder seiner Besucherin zu. «Ich weiß teilweise, was geschehen ist», fuhr er fort, vorsichtig bemüht, nichts Unwahres auszusprechen. Dann drehte er sich um und erklärte, noch immer am Fenstersims lehnend:

      «Es ist gut, dass Sie mich aufgesucht haben, Frau Matter. Ihre Vermutung ist leider berechtigt: Ihr Mann hat sich Gesetzwidrigkeiten zuschulden kommen lassen. Ich kenne allerdings noch nicht alle Einzelheiten. Ich schlage deshalb vor, dass wir ein weiteres Gespräch führen, sobald ich mehr weiß. Wichtig ist, dass Diskretion gewahrt bleibt. Wenn am falschen Ort geredet wird, droht verschiedenen Personen großes Ungemach, insbesondere auch den Herren Huber und Regenass. Ich bitte Sie deshalb, mit ihnen nicht in Kontakt zu treten. Jeder Schritt, der jetzt unternommen wird, kann falsch sein.»

      Sylvia Matter hörte Kellenbergers Enthüllungen mit unbewegtem Gesicht zu, nur in ihren Augen flackerten Unruhe und eine Spur von Angst.

      «Herbert wollte immer hoch hinaus», sagte sie schließlich. «Er war nicht zufrieden, mit sich nicht, mit seiner Arbeit nicht, und offenbar mit mir auch nicht. Dabei hatte er alle Aussicht, zum Abteilungsleiter befördert zu werden. Konrad Nägeli – das ist sein direkter Vorgesetzter – war ja bereits als Nachfolger des Amtsvorstehers vorgeschlagen. – Ach, das ist alles so unglaublich. Und so traurig. Wie geht es jetzt weiter?»

      «Ich weiß es nicht», sagte der Anwalt. «Noch nicht.»

      «Wann sollen wir uns wieder treffen?»

      «Morgen Abend um dieselbe Zeit. Wissen Sie, wo Ihr Mann sich jetzt aufhält?»

      «In einem kleinen Hotel. Er hat es mir gesagt. Wir sind übereingekommen, nach einiger Zeit zu überprüfen, ob die Trennung wirklich unabwendbar ist.»

      In ihrer Stimme schwang plötzlich Hoffnung mit, ihr Gesicht hellte sich auf. Aber Kellenberger dachte an Tanja Goldstein; er bezweifelte, dass Matter je zu einer Versöhnung Hand bieten würde. Er musterte seine Besucherin, und insgeheim bewunderte er die Würde, mit der sie die Trümmer ihrer Ehe zu ordnen versuchte. Seine Exfrau Helen hatte ihn seinerzeit kurzerhand hinausgeworfen, als sie von seinem kurzen – und wie er heute noch glaubte: harmlosen – Techtelmechtel während ihrer Schwangerschaft erfuhr. Jetzt aber quälte ihn vor allem die Frage, wie viele Informationen er Sylvia Matter offenlegen durfte. War sie zuverlässig? Wie würde sie auf die Steuerhinterziehungen reagieren, die ihr Mann so rücksichtslos ausgenützt hatte? Was, wenn sie von Tanja erfuhr? Ob Huber und Regenass ebenfalls nach London zitiert worden waren? Ob er es riskieren durfte, mit ihnen in Verbindung zu treten?

      Kellenberger folgte eher einem Impuls als einer rationalen Überlegung, als er in sein Arbeitszimmer zurückging. Er fand die Telefonnummern von Huber und Regenass auf Anhieb. Er entschied sich, mit dem Arzt zu beginnen. Aus dem Verzeichnis ging hervor, dass sich Praxis und Wohnräume im selben Haus befanden. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.

      «Ja?» Die Stimme klang hart und ungehalten.

      «Spreche ich mit Dr. Hubert Huber?»

      «Ja. Und wer sind Sie?»

      «Ein Bekannter von Herbert Matter. Sagt Ihnen dieser Name etwas?»

      «Und ob, verdammt noch mal! Was wollen Sie? Ich habe nichts mehr.»