Название | Reportagen 1+2 |
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Автор произведения | Niklaus Meienberg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038551591 |
Wie war das bei Gottfried Keller? Der als unübertroffener helvetischer Realist gerühmte Erzähler: Was erzählt er, während sein Freund Alfred Escher mit Bismarck auf höchster Ebene um den Gotthard-Durchstich pokert, die Geldströme in die Schweizerische Kreditanstalt leitet wie irgendeine Balzac-Figur, die Eisenbahnspekulation ins Kraut schiessen lässt und in der Villa Belvoir die Finanzmagnaten aller Herren Länder üppigstens bewirtet? Während am Gotthard gestreikt und einige Arbeiter erschossen werden, im Zürcher Oberland in den Fabriken der Textilbarone Gujer-Zeller und Kunz malocht und gehungert wird wie in einem Roman von Dickens? Und etwa 15% der schweizerischen Landbevölkerung von der Hunger-Misere zur Auswanderung gezwungen werden? Er erzählt seine Handwerker- und Schützenfestgeschichten, seine vorindustriellen Kleinstadtidyllen und Schnurrpfeifereien, und wenn's hoch kommt, hat ein mittlerer Handelsherr wie Martin Salander ein paar Schwierigkeiten, weil der betrügerische Kompagnon ihm das Wasser abgräbt. Die Profitgier, Motor des 19. Jahrhunderts: bei Keller eine Ausnahmeerscheinung, die man sich mit gesundem Bürgersinn vom Leibe halten kann, etwas Artfremd-Unschweizerisches, das nicht zu unserem Wesen gehört, die Akkumulationswut als vorübergehende Entgleisung – während sie bei Balzac schon vierzig Jahre früher als Regulativ erkannt wird und als Herz des neuen geldorientierten Systems. Dabei waren die Schweizer Bankiers der siebziger Jahre um nichts harmloser als die Bankiers zu Balzacs Zeiten unter Louis Philippe, nur unsere Schriftsteller waren harmloser als die französischen und viel gemütlicher.
Ungleichzeitigkeit von Literatur und Leben.
Aber natürlich, bei uns war und ist alles halt doch anders als anderswo, nicht so krass, in Frankreich und England waren doch die Gegensätze viel himmelschreiender. Woher wissen wir das? Aus Gottfried Kellers Werken. O du unausrottbare Gewissheit! Weil Gottfried Keller keinen Roman über Bodenspekulation und Bauwut geschrieben hat wie z.B. Emile Zola («La curée»), hat es damals vermutlich auch keine Bodenspekulation gegeben. Wirklichkeit als Post-festum-Produkt der zaghaften Phantasie unserer Erzähler.
Keller, das ist bekannt, hat Zola, seinen Zeitgenossen, verabscheut. So ein kruder Bursche, beschäftigt der sich doch sogar mit Prostitution («Nana»), mit Lokomotivführern («La bête humaine»), mit Kohlenförderung und Streiks und Armee-Einsätzen («Germinal»). Und auch mit Warenhäusern («Au bonheur des Dames»). Kein Thema für einen Dichter, fand Keller, und kippte noch einen hinter die Binde im Zunfthaus zur Meise, wo er immer gewohnheitsmässig soff, schon lange bevor dort das neue Buch von Otto F. Walter Premiere hatte und der Buchhändlerschaft vorgestellt wurde, im Herbst 1988. Natürlich gab es Lokomotivführer und Streiks und Prostitution auch in der Schweiz, aber G. Keller hätte vielleicht einmal seinen müden Staatsschreiber-Arsch ein bisschen lupfen und zum entstehenden Gotthard-Tunnel reisen müssen oder in die Fabriken des Spinnereikönigs Kunz ins Zürcher Oberland, damals der reichste Mann Europas, und bei den Huren hätte er sich auch einmal nach ihren Arbeitsbedingungen erkundigen können.
Aber so krud darf man das auch wieder nicht sagen.
Oder hätte nur unverblümt in seinen Büchern erzählen müssen, was er in der vornehmen Zürcher-Gesellschaft, wo er oft zu Gast war, sah und hörte; bei den Wesendoncks, den Rieters, Eschers, auch beim alten Wille (Vater des Generals). War aber viel zu schüchtern, um solche Geschichten auszuplaudern, hat sich diese Lust versagt. Beschickt unsere Phantasie statt dessen mit seinen ewigen Kleinbürger-Figuren und schimpft auf Emile Zola. Das hat man gern!
Meinrad Inglin hat vielleicht zu viel Gottfried Keller gelesen und wollte es ihm gleichtun. Es gibt tatsächlich auch im «Schweizerspiegel» wieder ein Schützenfest, wenn auch ein leicht gestörtes, und eine ideale Stauffacherin-Frauenfigur muss auch aufmarschieren, Mutter Ammann hat viel Geduld sowohl mit ihrem Mann als mit ihren Kindern, siehe Frau Regel Amrain und ihr Jüngster. Sie ist immer geraden Sinnes und aber auch guten Mutes. Die Familie ist mit dem Land verbunden, ein Teil der Verwandtschaft wohnt immer noch im Rusgrund, wo die ganze Sippe ursprünglich herkommt. Dort im Rusgrund riecht es gesund nach Heimat und Scholle, man kann immer wieder Regress nehmen aufs Land.
Die Vermögensverhältnisse der Familie Ammann sind zufriedenstellend, der Vater ist liberal und Oberst und Nationalrat (Miliz), und mit welcher Tätigkeit er zu seinem Wohlstand gekommen ist, wird im ganzen Buch nicht recht klar. Das Vermögen ist als selbstverständlich vorausgesetzt, es ist metaphysischer Natur, und eigentlich möchte man den alten Ammann gern einmal bei seiner Erwerbstätigkeit beobachten können. Das Familientableau – tableau vivant? – präsentiert sich ungefähr so: «Die Eltern und deren Verwandte in der gleichen Generation, Bruder, Schwester, Schwäger und Schwägerinnen, vertreten das schweizerische Establishment, wobei der Bogen einerseits ins Welschland, zurück zum bäuerlichen Herkommen andererseits gezogen ist. Die Jungen – seit wenigen Jahren erwachsen –, vorab die Söhne Ammann und die schon verheiratete Tochter Gertrud, deren Cousins, Freunde und Dienstkameraden, markieren die spezifischen Verhaltensweisen der damaligen jungen Generation in der Schweiz. Der verheiratete, älteste Sohn Severin ist deutschfreundlich, undemokratisch und autoritär. Paul, der zweite Sohn, Dr. phil., vertritt die schweizerische Intelligenz, welche neue Impulse vom Sozialismus erhofft, und Fred, der Jüngste, schwankt unentschieden zwischen den brüderlichen Positionen, bis er – seiner regressiven, aber von Inglin insgeheim gepriesenen Neigung gemäss – im Rusgrund, dem angestammten Heimwesen der Ammann, eine neue geistige und seelische Heimat findet.» (B. von Matt)
Und wo steht Inglin?
Scheinbar über den Parteien; dort, wo der Marionettenspieler die Fäden zieht. Aber wenn man seiner Sprache trauen darf, die immer dort lebendig und fast leidenschaftlich wird, wo es ums Militärische geht, wo Gewaltmärsche, Biwaks, Kantonnemente, Gefechtsübungen, Paradeuniformen, Abhärtungen, Défilés ins Bild kommen, während seine Diktion sonst, etwa bei den Liebesszenen, merkwürdig lahmarschig bleibt, so hat man den Eindruck, dass die Armee zur Hauptperson des Buches gemacht worden ist. Das könnte ja reizvoll sein und sehr modern: ein Kollektiv im Mittelpunkt der Handlung, an Stelle von Individuen, das vieltausendköpfige Ungeheuer als quasi autonomes Monstrum und Herr der Geschichte. Aber so verhält es sich bei Inglin auch wieder nicht, die Armee ist dann doch wieder sehr bieder, ambulante Heimat für den pflichtbewussten Soldaten, eine Prise Gilberte de Courgenay, ein bisschen Füsilier Wipf und weit und breit kein Soldat Schwejk (oder HD Läppli). Die Offiziere, mit wenigen Ausnahmen, meinen es nur gut, müssen aber im Interesse der Kriegsbereitschaft halt streng sein mit den Mannen. Wer sportlich ist und folgsam, kann Aspirant werden und dann Offizier; hoppla. In der Verlegung, im Tessin, gibt es schwarzbraune Mägdeleins, in die man sich verlieben darf (wer hat hier gelacht?), den Mädchen lauft das Wasser im Munde zusammen beim Anblick der hübsch gebügelten Kerls:
«Es waren Instruktionsaspiranten, Oberleutnants in knapp sitzender blauer Uniformbluse mit hohem rotbeschlagenem Kragen und silbernen Achselstücken, mit schneeweissen Lederhandschuhen und vernickeltem Säbel, den sie lässig schleifen liessen, Offiziere von vorbildlicher Haltung und tadellosem Aussehen, ja mit einem Stich ins Salonmässige, was ihre Tüchtigkeit erwiesenermassen nicht beeinträchtigte.» (M. Inglin)
Schön von der Armee auch, dass sie so unpolitisch ist. Inglin rapportiert zwar in den wenigen Klartext-Passagen, wo General Wille und von Sprecher und der germanophile Bundesrat Hoffmann unmaskiert auftreten, dass die Deutschfreundlichkeit der Armeespitze im Welschland auf heftige Abwehr gestossen ist; aber das ist halt so eine Ansicht der Welschen, es gibt auch andere Meinungen, z.B. die von Severin Ammann, der schon längst gerne mit den Deutschen in den Krieg gezogen wäre. Da steht halt Meinung gegen Meinung, und in der Mitte zwischen Paul und Severin steht Fred Ammann, Aspirant, der manchmal ein bisschen angezogen und dann wieder ein wenig abgestossen ist vom Säbelrasseln. Und wenn die strammen Offizierslehrlinge Ausgang haben, so ist es zwar sehr lästig, wenn ihnen die sozialistischen Jungburschen das Leben sauer machen im Kreis vier und den Herrchen ein paar Schlötterlinge anhängen; aber es genügt ein rascher Griff an den Säbel, und siehe da –
«Die Burschen, die auf dergleichen gefasst sein mochten und einen gewissen