Am Äquator. Isolde Schaad

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Название Am Äquator
Автор произведения Isolde Schaad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919671



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Verdriesslichkeit, die Ungeniessbarkeit für andere. Jede Passion, auch die negative, ist einem Arter der sechsundreissigsten Generation doch fremd. Bisher, denkt er. Und fühlt Blutandrang im Hals, vom Nacken her fährt ihm diese feile Jungfrau in die Lenden, hockt sich auf seinen Rücken und reitet ihn vom Hals bis ins Gehirn.

      Jetzt in die Senkrechte gehen, von den Knien an aufwärts, die Arme hoch, zwei mal stretchen. Plötzlich spürt er seinen Körper. Nicht die Fitness, sondern den Körper. Der macht, was er will.

      – Ich glaube, wir müssen das Gebläse einstellen –, sagt er im Gehen zur Praktikantin. Sie ist Dänin. – Das Klima hier drin ist unerträglich. –

      Sie guckt ihn an, als sei er der abnehmende Mond.

      – Ich eben habe gelüftet, Herr Arter. –

      – Nenn mich HK, Dörte, sonst komm ich mir vor wie dein Opa. –

      – Ich mag Opa, haben Herz Opas. –

      Dänisch klingt sehr direkt.

      1902 in den Slums von Bern. Sie könnte sich mit Dällebach Kari verbünden, leider kommt der zu spät. Mit dem Dällebach Kari einen Ganovenverbund eingehen, das hätte klappen können. Als Taschendiebin wäre diese Wahrheit besser als im Freudengewerbe, sie ist nicht lasziv, es muss ihr grausen vor den ungewaschenen Kerlen mit Alkoholfahne und Schaum vor dem Mund. Er wird ihr die Pille untermischen, als Pulver, auf keinen Fall darf sie geschwängert werden. Von den Hochnasen des Kunstbetriebs. Noch besser, dem Mädchen einen Gleitschirm einbauen, mit dem sie sekundenschnell aufsteigt, in die Lüfte. Damit sie wegkann, wenn die Schwarzen kommen. Nur ganz sanft andeuten, von hinter dem Lungenflügel links, einer genügt. Sein Vorgesetzter wird das nicht merken. Der hat bloss ein Gehirn, schon seine Augen sind zu weit vom Stoff entfernt, aus dem die wahre Kunst gemacht ist. Die Ware Kunst. Wegfliegen können, wenn die Schwarzen kommen. Das Mädchen muss leben, auf Teufel komm raus.

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      Französisch, machen wir’s französisch, hatte sie gefragt. Auf Deutsch. Und er war ziemlich verlegen gewesen, er war knappe zwanzig und hatte eine vage Vorstellung davon, aus dem Kino. Le Cinéma vérité. Kommt ihm die Bardot jetzt in die Quere mit ihrer Vérité, weil er nun täglich der anderen Wahrheit entgegentritt. Er war der Freier einer Dame, die ihr glich, üppig und mit Schmollmund. Das erste Mal in Paris, im Puff. Das war schäbiger als erwartet, keine Folies Bergère. Ziemlich abgefuckt und er noch kaum mannbar. Ihr Allemands mögt es doch französisch, und sie hat sich unumwunden an ihm zu schaffen gemacht, und erst dann hat er begriffen.

      Hodler hat mit diesem Mädchen vielleicht französisch gesprochen, er war doch bei Barthélemy Menn in Genf zur Ausbildung gewesen. Französisch mit breitem Berner Akzent. Sinnlos, weiter darüber zu brüten. Gedanken an sie zu verlieren, statt das Besteck an ihr zu wetzen. Er legt sich auf den Rücken, winkelt die Beine an. Hofft, dass ihn die Frauen nicht so liegen sehen.

      Arter Hanskonrad, treten Sie vor. In Gedanken schlägt er die Hacken zusammen, zu Diensten, Herr Korpskommandant, das Militär hat er gehasst, ganz gegen die Familienehre, die von einem potentiellen General und drei Obersten gepflegt wurde. Er war kein Vorzeigestudent wie sein älterer Bruder gewesen, der die Karriere einer traditionsreiche Sippe fortsetzte. Während er, er. Wie dem auch sei, er kannte kein forsches Berufsziel. Bis jetzt weiss er nichts von seinen eigentlichen Wünschen.

      Sie sind wohl so ein Aussteigertyp, Arter, Entscheiden Sie sich, was Sie im Leben wollen. Hat der Profax gemault, bei dem er hätte abschliessen sollen. Kunstgeschichte, das niederländische Stillleben in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Er hat nicht abgeschlossen. Hat ihn zu wenig interessiert, jenes überfrachtete Jahrhundert, das noch jetzt aus allen Nähten der Museen kracht.

      Da wo das Herz ist, klopft nur ein Muskel. Er möchte nicht daran erinnert werden, was damals geschah. Das kommt von weit unten, was in ihm dräut, er weiss nur dies: Kein anderer darf das Mädchen berühren. Eine späte Heimsuchung. Er sinnt über die Lücken nach, es sind viele, die Hodler auf dem Bild hinterlassen hat. Warum hat er sie ins Nichts gesetzt, geradezu eingekreist mit dem Nichts. Leere Leinwand um sie herum. Da er die Figur mit ein paar Pinselhieben hingeschmettert hat, könnte man sie für flüchtig halten, eine Flüchtige, das täuscht, denn sie steht aufrecht. Das heisst, dass sie sich wehrt. Dass Fatale ist, dass sie in seiner, des Restaurators Optik eine Liegende ist, eine stehend Liegende ist sie.

      Später denkt er, dass es ein Leichtes wäre. Hätte er nur das geringste Bedürfnis, nichts leichter als Kunstschändung. Er ist Herr über jedwede Manipulation. Es gibt laut Statistik mehr Kunstfetischisten, als man annimmt.

      Sein Einzelgang, seine Verwundbarkeit, woher. Weil er als Hetero schon bald der Aussenseiter ist? Er hasst die parfümierte Männererotik, die jetzt im Vestibül hängt, da hat irgendein schwuler Tycoon eine Schenkung gemacht, und jetzt trabt er täglich an diesen Herrenmodellen vorbei, sie wären was für Caravaggio gewesen, das halbe Museumsgewerbe ist neuerdings der Männerliebe zugetan. Dabei ist er keineswegs homophob, er hat doch keine Vorurteile, die Teamarbeit klappt bestens, ja, vielleicht ist sie sogar entspannter, weil er ein Hetero ist und daheim eine Frau hat, die nicht auf ihn wartet. Nicht mehr.

      Dieser Aufruhr in ihm. Er macht doch bloss seinen Job im Museum, dort, wo man dem Schönen und Wahren den Teppich bereitet. Ihm zu Füssen liegt, damit andere einem zu Füssen liegen, hinterher wird gemauschelt und kassiert. Alles Schöne und Wahre behaupten, das ist das Museumsbusiness, so wie eine einzelne Grille in seinem Garten den Sommer behauptet, der vollständig ins Wasser fällt.

      Hundert Jahre Wahrheit, in zwei Fassungen, und in ein paar Wochen wird er mit der transparenten Schablone Mass nehmen am Zwillingsgemälde, das in der Sammlung hängt. Dann wird die erste Fassung, seine Wahrheit hinaus treten, vor die Experten und Repräsentanten des Sponsors. Zur Anbetung freigegeben, oder insgeheim zum Abschuss. Missbrauch wird stattfinden, wenn der Vielfrass der Kunstmeute sie verschlingt. Demnächst im Rampenlicht der Medien, von Fotoblitzen erlegt, besudelt von jenen Gierigen, die ihre Brieftasche mit Kunstverstand verwechseln.

      Nachts träumt er, dass er auf Hodlers Gemälde durch die Wogen der Kunstgeschichte treibt, zurück bis in die Renaissance und weiter hinab. Wer will die Wahrheit, ruft er den sinkenden Flotten zu, doch die Menschen um ihn herum ertrinken, dann ist ihm, als kentere er selber im zum Leben erwachten tausendfach vergrösserten Purgatorium des Altarbildes von Hieronymus Bosch, das im Prado hängt. Am Morgen ist er schweissgebadet.

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      Er wird sie nie erreichen, die Wahrheit der Frauen. Diese Lektion eines Malers, der ein Frauenkenner war, ist deutlich. Der Maler hat sein Modell den Schattengestalten, welche Verfolgung und Tod weissagen, entzogen, indem er sie in einen unsichtbaren Mantel hüllte. Die rohe Leinwand, an der HK tagelang herumgeschabt hat, teilte ihm erst spät ihre eigentliche Funktion mit. Zwar scheint das bereits die wild entschlossene Miene des Mädchens zu tun, sie bringt eine stumme Beschwörung zum Ausdruck. Aber HK hat erst vor ein paar Tagen begriffen, dass es nicht der Gesichtsausdruck ist, der die Figur so stark macht. Dass es nicht ihre Abwehrgesten sind, welche die Gefahr bannen sollen, sondern die Leere, die sie umgibt. Die Hülle aus Nichts bestätigt ihre Unangreifbarkeit, der Maler hat das gewusst, und er, HK hat eine lange Leitung gehabt.

      Es ist also nicht nötig gewesen, zu tun, was er ursprünglich vorgehabt hat, was ihn vermutlich den Job gekostet hätte. Die Wahrheit mit ein paar technischen Kniffen zu manipulieren, damit sie nicht nackt einem ignoranten Publikum ausgeliefert wird.

      Die Gesamtausdünstung von Experten, Sponsoren, Kritikern, Investoren, Sammlern und ihren Groupiesist eine gewaltige Beeinträchtigung der Exponate, davon wissen die allesamt nichts. Deswegen hält er sich vom üblichen Kunstbetrieb fern. Niemand wird ihm abnehmen, dass ein jahrzehntelang praktiziertes unbedarftes Geschwätz auf das Kunstwerk eine schädliche Wirkung hat. Der Arter mit seinen Einbildungen, der Arter spinnt.

      Er rekapituliert: Wie und wodurch ist ihm eigentlich die Erleuchtung gekommen, dass die Lücken auf Hodlers Gemälde keineswegs von einer