Название | Die Tyrannei des Geldes |
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Автор произведения | Hans Peter Treichler |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783037600115 |
Auf einer der Wanderungen zum Mont Salève hat er mit den Freunden Scherer und Heim eine Anfrage der Genfer Bildungsdirektion diskutiert. Er, Amiel, soll ab Januar 1861 eine zehnteilige öffentliche Vortragsreihe im Stadthaus halten, Thema frei wählbar. Die Freunde warten mit einem ganzen Feuerwerk möglicher Sujets auf. Amiel notiert sie getreulich. Weshalb nicht eine populär gehaltene Betrachtung über das Wunderbare: Le merveilleux, son analyse et son histoire? Und wenn er das Material ohnehin zusammentragen muss – weshalb das Ganze nicht anschliessend ausarbeiten zu einem Buch, womöglich hübsch illustriert? Was das Genfer Publikum sicher ebenso interessiert: die Kultur des Geschmacks. Eine Vortragsreihe unter dem Titel Le goût, sa valeur et sa culture würde bestimmt die Damenwelt ins Stadthaus locken. Oder eine Untersuchung des Komischen, müsste sie nicht auch die Herren interessieren? Le Comique et ses variétés hätte zudem den Vorteil, dass Amiel ungeniert Beispiele anführen dürfte, mit Witzen oder Bonmots das Publikum zum Lachen bringen würde.
Dreizehn Themen kommen so schliesslich zusammen. Amiel wählt das unauffälligste von allen, Le langage et la langue maternelle, und hält am 8. Januar im Hôtel de Ville den ersten seiner zehn Vorträge. Die Sprache und das gesprochene Wort – das tönt nach philologischen Spitzfindigkeiten, nach trockenem Kästchendenken. Entsprechend lichten sich denn auch die Sitzreihen im Stadthaus schon in der dritten Januarwoche. Währenddessen hält, an einem anderen Wochentag, Kollege Victor Cherbuliez seine Vorträge zum Artusroman und zur höfischen Liebe vor brechend vollem Saal, auch bei Folge zwei, drei und so weiter bis in den März.
Cherbuliez, der Sohn des bedrängten Griechischprofessors, wird nach Paris ziehen. Amiel nicht. Es fehlt am Zwang, am Druck von aussen; zuhause wartet das weiche Ruhekissen, l’oreiller de paresse.
Amiel verdient zu wenig für ein Leben ohne Sorgen und trotzdem zu viel, als dass sich ein energischer, zupackender, selbstbestimmter Lebensentwurf aufdrängen würde. Aber was hindert ihn daran, sein eigenes kleines Vermögen zu optimieren, solange die Ehefrage offenbleibt? So wie viele seiner Bekannten hier und dort eine Anlage zu tätigen, wie ihm dies sein Treuhänder Louis Goetz immer wieder rät? Er könnte, meint Goetz, täglich ein halbes Stündchen für diese Dinge einsetzen, gleichsam mit der linken Hand die Finanzen nachführen, während er mit der rechten an einem ernsthaften Werk arbeitet. So wie dies jeder solide Haushalt handhabt, so wie Schwester Fanny es ihm täglich vorlebt: nouer les deux bouts, sein Scherflein zusammenhalten. So wie die Schwester und ihr Mann «das Gleichgewicht finden zwischen Bedürfnissen und Möglichkeiten, zwischen Einnahmen und Ausgaben». Und dabei tüchtig nutzen, was übrig bleibt. Weshalb gelingt ihm das nicht?
Regelmässig zum Jahresende erklingt im Tagebuch das gleiche Lied: Die Finanzen sind in Unordnung, es fehlt die Übersicht. «Mit Beschämung den wirren Zustand meiner Buchhaltung und die Unordnung meiner Kontoauszüge konstatiert», heisst es beispielsweise zu Silvester 1854. «Versäumnisse jeglicher Art in meinen Geschäften und meinen finanziellen Interessen. Alles als Folge meiner fatalen Faulheit, die alles aufschiebt, und meiner Unkenntnis bei den Methoden und Vorgehensweisen.» Manchmal reisst er sich zusammen, sortiert er seine Werttitel, setzt er sich mit Goetz und seinem Bankier Lejeune zusammen, zahlt das Bargeld ein, das sich in seiner Schublade angesammelt hat – die schmalen Honorare vom Journal de Genève, das Kursgeld für die Literaturvorlesungen, die er am Töchterinstitut der Demoiselles Maunoir hält. Aber noch viel öfter tut er nur das Allernötigste mit dem Bezahlen ausstehender Rechnungen, lässt er den Rest schleifen. Ist es der Hochmut, mit dem der geistig Tätige auf die Welt der Finanzen herunterblickt? «Geld verdienen erscheint mir instinktiv als eine schäbige Sache, die allein durch die Unterwerfung unter ein moralisches Ziel veredelt wird – zum Beispiel seine Familie ernähren, das Gesetz der Arbeit erfüllen, Gutes tun und so weiter. Ich ehre die Arbeit und heisse alle Berufe gut, aber der Handel, das Geschäft, die Bank stossen mich direkt ab, als niedrigste unter den menschlichen Tätigkeiten, als gemeinste und beschämendste.»
Der Eintrag stammt vom Herbst 1856. Damals ist er 35-jährig, aber auch der 50-Jährige empfindet ähnlich, wenn nicht noch eine Spur heftiger. «Ich stelle meine wachsende Abneigung gegen alles fest, was mit Finanzen, Investitionen, Buchhaltung und so weiter zu tun hat», heisst es im Frühling 1870. «Ich liebe die Ordnung, aber ich ertrage die erniedrigende Arbeit nicht, mit der sie erstellt wird. Ich bin froh, dass jemand die tollwütigen Hunde abtut, aber ich könnte nicht Abdecker sein.» Und später, im gleichen Eintrag: «Man könnte meinen, ich sei ein Adliger des Ancien Régime, so sehr missfällt mir das bürgerliche Krämertum, so widerlich ist mir dieses Jonglieren mit Zinsen, Konti, Wechseln undsoweiter. Lieber noch werde ich von diesen Beutelschneidern mit ihrem Geldriecher ausgebeutet, als dass ich mich mit dieser unwürdigen Wissenschaft herumschlage. Ich gehöre nicht in meine Zeit und in meine Schicht.»
Je ne suis pas de mon temps ni de ma classe ... Sollen wir das hier so stehen lassen? Es wird im folgenden Kapitel die Rede sein vom Dilemma, das Amiel während eines Vierteljahrhunderts immer neu formuliert hat: Wie finde ich eine Braut, mit der ich einen gutbürgerlichen Haushalt gründen kann? Wie lässt sich die Forderung nach einer namhaften Mitgift, ohne die ein standesgemässer Lebensstil unerreichbar bleibt, vereinbaren mit dem Ideal bedingungsloser gegenseitiger Liebe? Fällt er auch damit ausserhalb seiner Zeit, seiner Klasse?
Vorerst steht als Fazit fest: Im Umgang mit Geld schwingt beim feinsinnigen Philosophen stets die Stilfrage mit, vermischt mit dem Gefühl des verletzten Stolzes. «Die Tyrannei des Mammons ist erniedrigend», heisst es so oder ähnlich immer wieder. «Es ist unwürdig, dem Reichtum nachzujagen; es ist irritierend, vom Mammon abhängig zu sein.» Vom Geizigen oder vom Geldscheffler, der dem Geld dient, sagt ein Dichterwort, er sei «seines Knechtes Knecht». Natürlich will er sich nicht zu ihnen gezählt wissen. Aber sieht denn die Knechtschaft, die das Budget ausübt, so völlig anders aus?
Tatsächlich wird Amiel erst im Jahre 1873, zweieinhalb Jahrzehnte nach seiner Ernennung zum Dozenten, bei der Académie eine Gehaltserhöhung fordern. Obwohl Erziehungsdirektor Carteret umgehend, ja fast schon erschrocken, die Bezüge um die Hälfte anhebt, kann sich Amiel über den Triumph nicht so recht freuen. Zwar bezieht er statt 2000 nun 3000 Francs im Jahr – aber er hat sich mit seinem Vorpreschen selbst verleugnet, ist sich selbst untreu geworden. «Il est odieux de sortir de son caractère, après 24 ans de discrétion», bedauert er im Tagebuch. Immerhin hat ihn nicht Gewinnsucht zu seiner Forderung getrieben, auch das will er festgehalten wissen. Oh nein, es war das Gefühl für Recht und Unrecht, le sentiment de justice.
Nach welchen Kriterien wähle ich meine Zukünftige? Geist, Schönheit, Reichtum? Amiels Heiratspläne scheitern alle an der einen oder anderen Klippe.
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