Название | Verkörperter Wandel |
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Автор произведения | Martin Witthöft |
Жанр | Зарубежная психология |
Серия | |
Издательство | Зарубежная психология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867813686 |
Dem Bild folgend, steht der rote Engel für das beständige und ausgleichende Pulsieren meines Körpers, für die Essenz jeder lebendigen Körperlichkeit. Alles was lebt, pulsiert. Denn das Leben ist kein Zustand, sondern drückt sich in einer fortdauernden, rhythmischen Bewegung aus.
Der grüne Engel steht für den Urgrund meiner emotionalen Ebene: das Mitgefühl. Voraussetzung für wahrhaftige Begegnung, Ausgangspunkt jeder Beziehung und Quelle der Liebe.
Zuletzt repräsentiert der blaue Engel die Essenz meines geistigen Feldes: die Achtsamkeit. Tor meines Bewusstseins in die Welt, stiller Beobachter und anhaftungslose Quelle des Seins. Was für eine Freude!
Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit bilden als Kernqualitäten die Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Konkreten. In ihrer gemeinsamen Mitte befindet sich die eigenschaftslose Quelle des Seins. Alle drei fühlen sich wie der intimste Teil von mir an, sind zugleich aber das, was mich liebevoll und beständig über meine Persönlichkeit hinausführt.
Ich verstand, dass im Spektrum meiner verschiedenen Tätigkeiten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation der heilsamste Ausdruck meines Selbst waren. Dieser Einsicht bin ich seither beständig gefolgt. Mit den Jahren ist sie zur Grundlage eines einheitlichen und zugleich vielseitigen Modells geworden, in dem sich das Wissen der traditionellen Spiritualität und einer modernen transpersonalen Psychologie miteinander verbinden.
Ein wesentlicher Punkt besteht dabei in der Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen immer dann – und oft wie von »selbst« – geschehen, wenn wir das werden, was wir sind. Mitfühlend und achtsam betrachtet, ist jeder Ausdruck unserer Seele, mag er zunächst auch noch so niedrig oder egoistisch erscheinen, immer auch ein notwendiger Teil unserer spirituellen Entwicklung. Wenn ich lernen will, mich dem Leben hinzugeben, werde ich Fehler machen. Aber, wie Miles Davis so treffend sagte: »When you hit a wrong note, it’s the next note that makes it good or bad.«
Das Leben ist nun mal nicht perfekt. Perfektion ist ein Konzept, ein Hindernis, eine Idee des Egos. Wenn wir lernen, die nächste Note aus dem Zentrum von Mitgefühl und Achtsamkeit zu spielen, können wir uns dem pulsierenden Leben vollständig anvertrauen. Dann stehen wir weniger zwischen dem Absoluten und dem Konkreten, sondern erscheinen als die Verkörperung des einen im anderen.
Staunend und dankbar betrachtete ich meine Tochter beim Essen. Fühlen, Denken und Handeln kamen bei ihr aus einer Quelle und widmeten sich in diesem Augenblick leidenschaftlich den Kartoffeln. Die Kühe waren ein Stück weitergezogen und suchten die Kühle im Schatten eines Baumes. Am Horizont tauchten Wolken auf, und die Luft roch bereits nach der erdigen Feuchte des Regens.
Die Wissenschaft vom Sein
Wie soll es gehen, sich dem Leben zu anvertrauen – dem Körper, den Gefühlen und dem Geist? In gewisser Hinsicht widerspricht das allen spirituellen Traditionen.
Denn raten diese nicht gerade davon ab, sich dem trieborientierten, instinktgesteuerten Körper zu überlassen? Dem Körper, der anfällig für Krankheiten und Ursache vielfältigen Leids ist und zuletzt sterben wird?
Widerspricht es nicht jeder Vernunft, sich den impulsiven, unbewussten und irrationalen Gefühlen hinzugeben? Denn es gibt ja nicht nur die Sonnenseite von Liebe, Freude und Mut. Warum sollten wir auch unseren verzweifelten Ängsten trauen, zerstörerischer Aggression, besitzergreifender Eifersucht oder missgünstigem Neid?
Und sind wir nicht genauso oft von unserem Geist in die Irre geleitet worden: Waren wir nicht immer wieder überzeugt, etwas zu wissen, und hatten letztlich doch nur Behauptungen aufgestellt? Sind es nicht unsere Wertungen, Ideologien und Konzepte, die uns von der lebendigen Gegenwart trennen?
Der Körper, die Emotionen und der Geist sind Ausgangspunkt von tiefen, leidvollen Erfahrungen. Das führt zur Frage: Was passiert, wenn wir Körper, Emotionen und Geist ablehnen, ihnen misstrauen? Wie bleiben wir mit dem Leben verbunden? Woran können wir uns stattdessen orientieren? Was hilft uns zu erkennen, ob wir uns in Richtung Wachstum, Entwicklung und Freiheit bewegen oder wir stattdessen ausweichen, vermeiden und uns täuschen?
Zunächst ist es hilfreich zu erkennen, dass die Kategorien Richtig oder Falsch, Ja oder Nein, Vertrauen oder Misstrauen auch nichts weiter als Konzepte des Geistes sind. Das Leben vollzieht sich aber in dem differenzierten, oft chaotischen und spontanen Raum zwischen Schwarz und Weiß. Es besteht nicht nur aus reinem Licht oder vollkommener Dunkelheit. Unsere Existenz erscheint immer in unzähligen Schattierungen und Farben.
Können wir also eine Neugier in uns spüren, ein Interesse, diesen Zwischenraum, dieses Spektrum zu erforschen? Können wir wahrnehmen, wie dabei Mut aufkommt – eine zarte Kraft – und mit ihm die Bereitschaft, uns auf etwas Neues einzulassen? Wo in uns können wir diesen Mut spüren? Können wir ihm etwas Raum geben? Vielleicht möchten wir seine Energie in Bewegung setzen, ganz körperlich. Anfangs noch vorsichtig, einen Fuß nach dem anderen, später selbstbewusster, spielerisch oder lustvoll. Hier geht es entlang! Körper, Emotionen und Geist agieren jetzt aus einer verbundenen Mitte. Diesem Impuls gilt es zu vertrauen.
Dazu fragen wir uns in einem ersten Schritt: Was verbindet das Yoga mit den Ebenen Geist, Emotionen und Körper? Für die Antwort unternehmen wir eine weite Reise: zweieinhalb Jahrtausende zurück bis zu den Wurzeln des heutigen Yoga.
Die damals entstandene Sankhya-Philosophie ist eine kosmische Evolutions- und zugleich spirituelle Befreiungslehre. Um ihre Relevanz für eine zeitgemäße Yogapsychologie zu verdeutlichen, stelle ich sie hier der Entwicklungsbiologie gegenüber. Dabei werden wir sehen: Fühlen, Denken und Handeln sind unterschiedliche Facetten ein und derselben Quelle.
Sankhya-Philosophie und Entwicklungsbiologie im Vergleich
»Nach dem Tod wirst du sein, was du vor deiner Geburt warst.«
Arthur Schopenhauer
Das Sankhya ist eine der wichtigsten Lehren der indischen Philosophie. Kapila, sein Begründer, entwickelte es vor etwa 2500 Jahren. Wegen seiner nüchternen, präzisen Klarheit sollte es später zur Grundlage des Mahabharata, der Bhagawadgita sowie des Yogasutra von Patanjali werden. Auch heute noch gehört die Sankhya-Philosophie zu einem der nachhaltigsten und einflussreichsten geistigen Einflüsse des indischen Subkontinents.
Die Entwicklungsbiologie hingegen ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Ihr Anliegen ist es zu verstehen, wie sich aus nur wenigen Zellen komplexes, bewusstseinsfähiges Leben entwickelt. Sicherlich haben Menschen schon immer danach gestrebt zu entschlüsseln, wie aus der Verbindung von Mann und Frau ein neuer, ganz eigener Mensch hervorgehen kann. Die moderne Medizin hat uns zuletzt in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse gebracht.
Sankhya und Entwicklungsbiologie verbindet auf den ersten Blick, dass sich beide mit der Entstehung des Menschen und damit eines ganzen Kosmos befassen: Wie kommt unser Bewusstsein aus dem scheinbaren Nichts in die Welt? Wie inkarniert sich die Seele in einem Körper, der es ihr ermöglicht, sich in dieser Welt zu verwirklichen? Georg Feuerstein nennt Sankhya »die Wissenschaft vom Sein« (Feuerstein 2008) – eine Beschreibung, die zweifelsohne auch auf die Entwicklungsbiologie zutrifft.
Der Schöpfungsakt
Sankhya
Sowohl Sankhya als auch Entwicklungsbiologie beginnen mit einem Blick auf den Schöpfungsakt. Im Sankhya stehen sich dabei zwei Grundprinzipien gegenüber: Purusha (»Mann, Mensch, Menschheit, Urseele«), das allgegenwärtige und ewige Bewusstsein, und sein Gegenstück Prakriti (»Materie, Natur«), die veränderliche und unbewusste Grundlage der Natur und all ihrer Erscheinungen (siehe Abb. 1).
Der Ausdruck von Prakriti