The New Jim Crow. Michelle Alexander

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Название The New Jim Crow
Автор произведения Michelle Alexander
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783956141591



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oder gesunken. Zwischen 1960 und 1990 beispielsweise waren die Kriminalitätsraten Finnlands, Deutschlands und der USA nahezu identisch. Die Inhaftierungsrate in den USA vervierfachte sich jedoch, in Finnland fiel sie um 60 Prozent, und in Deutschland blieb sie gleich.16 Trotz nahezu identischer Kriminalitätsraten fiel also das staatlich verordnete Strafmaß völlig unterschiedlich aus.

      Die Kriminalitätsrate in den USA liegt gegenwärtig unter dem internationalen Durchschnitt, und dennoch weist das Land heute eine Inhaftierungsrate auf, die die anderer Industrienationen um das Zehnfache übersteigt17 – eine Entwicklung, die unmittelbar auf den Krieg gegen die Drogen zurückzuführen ist. Das einzige Land der Welt, das ähnliche Inhaftierungszahlen zu vermelden hat, ist Russland, und nirgendwo sonst auf der Welt landet ein so erschreckender Prozentsatz ethnischer Minderheiten im Gefängnis wie in den USA.

      Die nüchterne Wahrheit lautet, dass das amerikanische Strafsystem aus Gründen, die im Großen und Ganzen nichts mit der gegenwärtigen Kriminalitätsentwicklung zu tun haben, eine in der Weltgeschichte beispiellose Methode sozialer Kontrolle darstellt. Man könnte meinen, dass schon allein aufgrund von dessen Dimensionen die Mehrheit der Amerikaner davon tangiert sein müsse, doch es trifft vor allem Minderheiten. Diese Entwicklung verblüfft, vor allem wenn man bedenkt, dass Mitte der 1970er Jahre die angesehensten Kriminalwissenschaftler voraussagten, das Gefängnissystem werde bald verschwunden sein. Haftstrafen würden nur minimal vor Verbrechen abschrecken, schlussfolgerten viele Experten. Wer sinnvolle wirtschaftliche und soziale Chancen habe, begehe wahrscheinlich auch ohne eine drohende Gefängnisstrafe kein Verbrechen, und diejenigen, die ins Gefängnis wanderten, würden in der Zukunft mit höchster Wahrscheinlichkeit wieder straffällig. Den zunehmenden Konsens unter Fachleuten spiegelte wohl am besten eine Empfehlung der National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals aus dem Jahr 1973 wider, in der es hieß, dass »keine neuen Haftanstalten für Erwachsene gebaut und bestehende Jugendhaftanstalten geschlossen werden sollten«.18 Diese Empfehlung beruhte auf der Erkenntnis, dass »das bundesstaatliche und staatliche Gefängnis und die Besserungsanstalt nur Misserfolge gebracht haben. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass diese Institutionen zu Kriminalität führen, statt sie zu verhindern«.19

      Heute werden Aktivisten, die für »eine Welt ohne Gefängnisse« eintreten, häufig als Phantasten abgetan, doch noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte der Gedanke, dass es unserer Gesellschaft ohne Gefängnisse besser gehen würde – und das Ende der Gefängnisse mehr oder weniger unausweichlich sei –, nicht nur die zentrale kriminalwissenschaftliche Debatte, sondern löste auch eine landesweite Kampagne von Reformern aus, die einen Stopp des Gefängnisbaus forderten. Marc Mauer, der geschäftsführende Direktor des Sentencing Project, weist dar auf hin, dass im Rückblick das Bemerkenswerteste an der Moratoriumskampagne der Kontext war, in dem sie stattfand. Im Jahr 1972 saßen landesweit knapp 350.000 Menschen im Gefängnis, heute sind es zwei Millionen. Die Inhaftierungsrate befand sich 1972 auf einem so niedrigen Niveau, wie wir es heute nicht mehr für möglich halten, während sie für die Unterstützer der Kampagne unerhört hoch war. »Den Unter stützern des Moratoriumsbegehrens kann man ihre Naivität angesichts dessen, dass der bevorstehende Ausbau des Gefängnissystems in der Menschheitsgeschichte beispiellos war, nachsehen«, meint Mauer.20 Denn niemand konnte sich vorstellen, dass sich in der eigenen Lebenszeit die Gefängnispopulation mehr als verfünffachen würde. Für viel wahrscheinlicher hielt man die Abschaffung der Gefängnisse.

      Doch nichts scheint gegenwärtig ferner zu liegen. Und trotz der nie da gewesenen Inhaftierungsraten in der afroamerikanischen Community verhält sich die Bürgerrechtsbewegung seltsam still. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird einer von drei jungen afroamerikanischen Männern eine Zeit lang im Gefängnis verbringen, und in manchen Städten befindet sich gegenwärtig über die Hälfte aller schwarzen jungen Männer unter Kontrolle der Strafjustiz – das heißt, sitzt im Gefängnis oder steht unter Bewährung.21 Dennoch wird die Masseninhaftierung im Gegensatz zur Rassenjustiz oder den Bürgerrechten (beziehungsweise deren Krise) meist lediglich als Thema der Strafjustiz betrachtet.

      Die Aufmerksamkeit der Bürgerrechtsbewegungen richtet sich vorwiegend auf andere Fragen wie die Affirmative Action. In den letzten zwanzig Jahren hat praktisch jede progressive, nationale Bürgerrechtsgruppe im Land für die Verteidigung der Affirmative Action mobilisiert und demonstriert. Der Kampf um diese Art der Minderheitenförderung in der höheren Bildung und somit für die Erhaltung der Vielfalt in den elitärs ten Colleges und Universitäten des Landes verschlingt einen Großteil der Ressourcen der Bürgerrechtler und beherrscht den Diskurs über Rassengerechtigkeit in den Massenmedien, was in der allgemeinen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, die Affirmative Action sei die Hauptfront in den amerikanischen Rassenbeziehungen – obwohl sich unsere Gefängnisse mit schwarzen und braunen Männern füllen.

      Ich kann diese Entwicklung aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich in die ACLU eintrat, glaubte niemand daran, dass sich das Racial Justice Project auf eine Reform des Strafrechts konzentrieren würde. Die ACLU hat sich an vielen entsprechenden Projekten beteiligt, aber niemand meinte, dass diese Arbeit einmal im Zentrum des Racial Justice Project stehen würde. Vielmehr ging man davon aus, dass sich dieses Projekt voll und ganz auf die Verteidigung der Affirmative Action stürzen würde. Kurz nach meinem Abschied von der ACLU wurde ich Mitglied im Vorstand des Lawyers’ Committee for Civil Rights (Anwaltkommission für Bürgerrechte) der San Francisco Bay Area. Obwohl die Organisation das Thema Rassengerechtigkeit zu ihren höchsten Prioritäten zählte, spielte die Reform des Strafjustizsystems innerhalb ihrer Arbeit für Rassengerechtigkeit keine große Rolle. Und damit stellte sie keine Ausnahme dar.

      Im Januar 2008 informierte die Leadership Conference on Civil Rights – ein Dachverband, der aus der Führung von über 180 Bürgerrechtsorganisationen besteht – ihre Bündnispartner und Unterstützer in einem Brief über eine groß angelegte Initiative zur Dokumentierung des Abstimmungsverhaltens der Kongressmitglieder. Darin wurde erklärt, dass der demnächst erscheinende Bericht zeigen werde, »wie die einzelnen Mitglieder des Repräsentantenhauses und Senatoren 2007 bei den zentralsten Bürgerrechtsthemen wie Stimmrecht, Affirmative Action, Einwanderung, Nominierungen, Bildung, Hasskriminalität, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnen und Armut abgestimmt haben«. Fragen zur Strafjustiz hatten es nicht auf die Liste geschafft. Dieselbe breite Koalition organisierte im Oktober 2007 eine große Konferenz unter dem Titel »Why We Can’t Wait: Reversing the Retreat on Civil Rights« (Warum wir nicht warten können: Die Abkehr von den Bürgerrechten abwenden), mit Foren zu den Themen Integration in den Schulen, Diskriminierung bei der Einstellung, Diskriminierung bei der Bewerbung um eine Sozialwohnung und bei der Kreditvergabe, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Behindertenrechte, Altersdiskriminierung und Rechte der Einwanderer. Keine einzige Veranstaltung widmete sich der Reform der Strafjustiz.

      Die gewählten Anführer der Afroamerikaner haben ein umfassenderes Mandat als Bürgerrechtsgruppen, doch auch sie klammern häufig das Problem der Strafjustiz aus. So bat der Congressional Black Caucus (Fraktion der schwarzen Kongressabgeordneten) im Januar 2009 in einem Brief Hunderte Anführer von schwarzen Communitys und Organisationen um Informationen über ihre Hauptanliegen. In dem Schreiben waren dazu mehr als drei Dutzend Themenfelder aufgelistet, darunter Steuern, Verteidigung, Einwanderung, Landwirtschaft, Wohnungsbau, Banken, höhere Bildung, Multimedia, Verkehr und Infrastruktur, Frauen, Senioren/Rentner, Ernährung, religiöse Gruppen, Bürgerrechte, Volkszählung, materielle Sicherheit und zukünftige Führungspersönlichkeiten. Die Strafjustiz wurde nicht erwähnt. »Resozialisierung« war ein Stichpunkt, aber wem an einer Reform des Strafjustizsystems lag, dem blieb nichts anderes übrig, als sein Kreuzchen bei »Sonstige« zu machen.

      Das heißt nicht, dass im Hinblick auf eine Strafjustizreform bislang nicht viel Entscheidendes geschehen wäre. Bürgerrechtsvertreter haben heftige Proteste gegen bestimmte Aspekte des neuen Kastensystems organisiert. Ein denkwürdiges Beispiel hierfür ist der erfolgreich vom Legal Defense Fund der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) angeführte Widerstand gegen eine verdeckte Ermittlung in einer Drogensache in Tulia, Texas, die einen rassistischen Hintergrund hatte. Bei der Drogenrazzia im Jahr 1999 wurden fast 15 Prozent der schwarzen Einwohner der Stadt inhaftiert – auf Grundlage lediglich der Falschaussage