Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Название Der energethische Imperativ
Автор произведения Hermann Scheer
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783888977701



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werden wir blind gegenüber den weit über die Energieversorgung hinausgehenden Unterschieden zwischen den Energiequellen. Wir haben nur eine Entscheidung: die über die Energiequelle selbst, die das »Gen« eines Energiesystems ist. Nach der Wahl der Energiequelle bestimmt indirekt diese, was alles zu tun ist, um sie verfügbar zu machen und zu halten. Unweigerlich muss dann den unterschiedlichen physikalisch-technischen Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Energiequelle gefolgt werden, entlang des gesamten Energieflusses vom Ort der Aneignung bis zu den Energiekonsumenten.

      Die Adressaten jedweder Energiebereitstellung sind die Energiekonsumenten. Konsumiert wird letztlich immer dezentral – ob in größeren Mengen, etwa in einer Fabrik, in räumlicher Verdichtung, etwa in einer Großstadt, oder in vielen kleineren Formen und Mengen, im Haushalt oder Automobil. Dezentraler Energiekonsum ist die einzige zwingende Gemeinsamkeit der konventionellen mit einer erneuerbaren Energieversorgung. Die Primärressourcen atomarer und fossiler Energien finden wir an nur wenigen Plätzen des Globus, wo Kohle-, Uran-, Erdöl- und Erdgasreserven konzentriert unter der Erde liegen. Von dort werden diese Energien über lange Transportstrecken zu Kraftwerken und Raffinerien und zu Milliarden Energiekonsumenten an nahezu jedem Ort der Erde transportiert, wo Menschen arbeiten und leben: Es findet also eine Entkoppelung der Räume der Energieförderung von den Räumen des Energiekonsums statt. Diesen Energiefluss von den wenigen Förderplätzen in wenigen Ländern zu Milliarden Energiekonsumenten in aller Welt können nur große, transnational tätige oder kooperierende Energiekonzerne leisten. Und da es an keiner Stelle der Kette eine Unterbrechung geben darf, sind diese auf eine enge Zusammenarbeit mit Regierungen angewiesen – und umgekehrt. Daher sind Regierungen zum integralen Bestandteil der atomaren/fossilen Energiewirtschaft geworden. So entstand, in begrifflicher Analogie zum »politisch-militärischen Komplex«, der »politisch-energiewirtschaftliche Komplex«. Die konventionelle Energiewirtschaft konnte sich unverzichtbar machen und bleibt unverzichtbar, solange fossile und atomare Energien nicht durch erneuerbare Energien ersetzt sind. Sie hat die Gesellschaften angekettet und das Selbstverständnis einer »Hüterin der Volkswirtschaft« annektiert, während Regierungen zu »Hütern der Energiewirtschaft« wurden. Sie errang nicht nur eine bereits von ihren Energiequellen vorbestimmte Monopol- bzw. Oligopolstellung, sondern auch ein geistiges Monopol. Sie hat das Weltbild der Energieversorgung geprägt, das nicht aus einer Verschwörung entstand, sondern aus den inhärenten Erfordernissen der gewählten Energiequellen.

      Dies ist auch der Grund, warum den erneuerbaren Energien – soweit sie nicht in die von den konventionellen Förderplätzen vorgegebene zentralisierte Energieversorgung passen wie die Großwasserkraftwerke – überall mit dem gleichen Unverständnis und den gleichen Vorbehalten mangelnder Effizienz begegnet wurde und noch wird. Obwohl auch die konventionelle Energiewirtschaft auf eine breite dezentrale Verteilung ausgerichtet sein muss, ist für sie die mit den erneuerbaren Energien entstehende breit gestreute dezentrale Erzeugung praktisch unvorstellbar. Die Primärenergie ist kostenlos, was Franz Alt, der weltweit für erneuerbare Energien engagierteste Journalist, mit dem Satz »Die Sonne schickt uns keine Rechnung« auf den Punkt gebracht hat. Niemand kann also erneuerbare Energien monopolisieren. Als natürliche Energieangebote sind sie vorhanden, ob wir sie aktiv nutzen oder nicht. Ihr Weltpotenzial ist unvorstellbar groß. Der Astrophysiker Klaus Fuhrmann hat vorgerechnet: Jede Sekunde wandelt die Sonne vier Mio. Tonnen Materie in Energie um und strahlt diese ab: 386.000.000.000.000.000.000.000 (386 Trilliarden) Watt pro Sekunde; ein halbes Milliardstel davon trifft unseren Planeten.[7] Dies sind täglich immer noch 20.000 Mal mehr als der derzeitige tägliche Energiebedarf der Menschen. Zweifel daran, dass dieses Potenzial für die Energieversorgung der Menschheit ausreichen könnte, sind lächerlich.

      Als natürliche Umgebungsenergie sind die erneuerbaren Energien überall auf dem Erdball vorhanden, in allerdings unterschiedlicher Intensität. Sie ermöglichen eine dezentrale Energiegewinnung für dezentralen Energiekonsum, also das Zusammenfallen der Räume der Energiegewinnung mit denen der Energienutzung. Primärenergietransporte sind – außer bei der Bioenergie – weder nötig noch möglich. Es geht nicht mehr um die physikwissenschaftliche Ambition zu immer höherer »Energiedichte«, von den fossilen Energien hin zu der noch viel höheren der Kernspaltung und dann der höchsten der Kernfusion – als zwangsläufige Folge der Aneignung und Umwandlung dieser Energie durch wenige zentralisierte Energieversorger und deren Veräußerung und Verteilung an alle. Mit erneuerbaren Energien wird es möglich, den umgekehrten Weg einzuschlagen: die Aneignung und Umwandlung von Energie potenziell durch alle und damit die umfassende Befreiung von existenziellen Abhängigkeiten. Es ist ein Weg von zunehmender energetischer Fremdbestimmung zu wachsender energetischer Selbstbestimmung, für Individuen und für Gesellschaften. Es ist ein Wechsel von der Desintegration der Menschen aus den Naturkreisläufen zu ihrer Re-Integrierung, von globalisierter struktureller Einfalt der Energiebereitstellung zu struktureller Vielfalt und zu einer neuartigen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung.

      Für die Hochenergiephysiker ist das ein Rückschritt. Gleiches gilt für die Energiewirtschaft und die Energiepolitik, die sich von kleinen Kraftwerken und kommunalen Versorgungsstrukturen zu immer größeren entwickelt hat. Und nun soll es umgekehrt sein? Alle Kosten für erneuerbare Energien sind Technikkosten. Man muss ihre Aneignung aber nicht zentralisieren. Es muss also kein »upstream« organisiert werden, wie es in der Erdölsprache heißt, um sie anschließend im »downstream« auf Milliarden Menschen zu verteilen. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien erfordert ein neues Energiedenken, das die Energieversorgung, samt der dafür notwendigen spezifischen Umwandlungs- und Bereitstellungstechnik und Nutzungs- und Unternehmensformen, auf viele Füße stellt. Nicht nur den mit den konventionellen Energiestrukturen verhafteten Interessengruppen fällt es schwer, die besondere Techno- und Sozio-Logik erneuerbarer Energien zu verstehen und ihr wahres Potenzial zu erkennen.

      Die unbewusste oder bewusste Verhaftung im überkommenen Energiedenken ist der wesentliche Grund für zahlreiche wissenschaftliche und politische Fehleinschätzungen bezüglich erneuerbarer Energien. So erklärte Hans-Karl Schneider, der frühere Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln, der auch eine Zeitlang Vorsitzender des »Sachverständigenrats der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« war, 1977: »Mehr als fünf Prozent sind bei Sonnenenergie, Windenergie, Erdwärme und anderen ›exotischen‹ Energien einfach nicht drin.« 1990 verlautbarte der »Informationskreis Kernenergie«, der von den deutschen Stromkonzernen finanziert wird: »1988 wurde in Dänemark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Wind erzeugt – das entspricht einem Anteil von 0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch. Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraft ist in der Bundesrepublik wegen anderer klimatischer Bedingungen nicht möglich«. 1993 hieß es in einer in allen großen Zeitungen veröffentlichten Anzeige der deutschen Stromwirtschaft: »Kann Deutschland aus der Kernenergie aussteigen? Ja. Die Folge wäre allerdings eine enorme Steigerung der Kohleverbrennung, mithin der Emissionen des Treibhausgases CO2. Denn regenerative Energien wie Sonne, Wasser und Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 Prozent unseres Strombedarfs decken. Können wir ein solches Vorgehen verantworten? Nein.«[8]

      Im Juni 2005 erklärte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel: »Den Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch auf 20 Prozent zu steigern, ist wenig realistisch.« Zwei Jahre später setzte sie, inzwischen Bundeskanzlerin, als Ratsvorsitzende der EU einen Beschluss durch, der bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch vorschreibt. 2006 behauptete Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, gestützt auf Gutachten, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bis 2025 nur bei maximal 27 Prozent liegen könne, was etwa dem Anteil der Atomenergie an der deutschen Stromversorgung entspricht. Drei Jahre später, im Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 2009, wurde gefordert, den Ausbau der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung bis 2020 auf mindestens 35 Prozent und bis 2030 auf »mindestens die Hälfte« zu steigern. Der Mut zu erneuerbaren Energien war also in kurzer Zeit erheblich gestiegen.

      Auch wissenschaftliche Prognosen haben durchgehend zu kurz gegriffen, selbst wenn sie von Verbänden für erneuerbare Energien kamen. 1990 prognostizierte die EWEA (European Wind Energy Association) für das Jahr 2000 eine installierte Windkraftkapazität in den damaligen fünfzehn EU-Mitgliedsländern von 4.089 MW – realisiert