Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Название Der energethische Imperativ
Автор произведения Hermann Scheer
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783888977701



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Prognosen der EU-Kommission, die sich auf renommierte wissenschaftliche Institute stützt, lagen weit hinter der tatsächlich eingetretenen Entwicklung. 1996 veröffentlichte sie ein »baseline-scenario« und ein optimistischeres »advanced scenario«. In ersterem sprach sie von 6.799 MW installierter Windkraft-Kapazität in der »EU-15« bis zum Jahr 2007 und hatte damit eine Fehlerquote von 732 Prozent gegenüber dem dann bereits real erreichten Ausbau. In letzterem sprach sie von einem Anteil des Wind- und Solarstroms von 30.280 MW bis 2020 – ein Wert, der im Jahr 2008 mit realisierten 73.504 MW weit überschritten war. 1998 legte die EU-Kommission eine weitere Prognose vor, in der 47.100 MW Windkraft bis 2020 genannt wurden, was bereits im Jahr 2008 mit 64.173 MW übertroffen war. Für die solarthermische Energie wurden 10.440 MW bis 2020 angekündigt, was jedoch schon 2007 erreicht war.

      Auch die Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) hinken regelmäßig hinter der tatsächlichen Entwicklung her. So sagte sie 2002 in ihrem »World Energy Outlook« für die »EU-15« bis 2030 eine Windkraftkapazität von 71.000 MW voraus, die aber im Jahr 2009 erreicht war. Für die Photovoltaik prognostizierte sie bis 2020 eine Kapazität von 4000 MW – aber im Jahr 2008 waren es schon 9.331 MW. Weltweit sagte sie bis 2020 eine Windkraftkapazität von 100.000 MW voraus, die 2008 mit 121.188 MW längst übertroffen war. Der systematischen Unterschätzung erneuerbarer Energien stellt die IEA regelmäßig Überschätzungen fossiler Energien und der Atomenergie gegenüber. So erklärte sie im Jahr 2007, als der Preis für das Barrel Erdöl bei etwa 100 US-Dollar lag, dass sich bis zum Jahr 2030 der Ölpreis auf durchschnittlich 62 US-Dollar einpendeln werde. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch einen Durchschnittspreis von 30 Dollar für die folgenden zwanzig Jahre angekündigt. Die IEA ist eine internationale Regierungsorganisation der OECD-Staaten, an deren »Expertise« sich Regierungen in ihren Entscheidungen ebenso orientieren wie investierende Unternehmen und Kreditinstitute; sie liegt auch zahlreichen energiewissenschaftlichen Veröffentlichungen zugrunde. Mit ihren Fehlprognosen hat sie in erheblichem Maße zu politischen Fehlentscheidungen, zu Fehlinvestitionen im Bereich konventioneller Energien und zu unterlassenen Entscheidungen für erneuerbare Energien beigetragen. Dennoch wird sie nach wie vor von den Regierungen – insbesondere von den Weltwirtschaftsgipfeln (G8 bzw. G20) – mit neuen Studien beauftragt.

      Die zitierten Einschätzungen und Prognosen zum Nutzungspotenzial der erneuerbaren Energien zeigen, wie sehr sich gerade anerkannte Energieexperten blamiert haben. Entweder geschah dies, weil andere Ergebnisse nicht erwünscht waren, oder weil es außerhalb ihres Denkfeldes liegt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dezentralen Anlagen völlig anders verläuft als die Investitionsplanung mit Großanlagen. Wenn nun neuere Prognosen von höheren Ausbauraten als bisher sprechen und diese wiederum als Grenze realer Möglichkeiten darstellen, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich dabei nicht wiederum irren.

      Selbst die Prognose des deutschen Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE), der zu den aktiven Vorreitern gehört, ist zurückhaltender, als sie sein könnte. Sie nennt für das Jahr 2020 einen möglichen Anteil der erneuerbaren Energien an der deutschen Stromversorgung von 47 Prozent. Das bedeutet eine Verdreifachung des im Jahr 2009 erreichten Anteils von 17 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Diese deutlich optimistischere Zahl wird – wie üblich – von vielen als unrealistisch eingestuft. Dabei lässt sich relativ einfach berechnen, warum der Anteil bis 2020 schon deutlich höher liegen könnte. Nehmen wir nur das Beispiel der Einführung der Windkraft, die zum Jahresende 2009 etwa 9 Prozent des deutschen Nettostromverbrauchs stellte, mit insgesamt 25.777 MW installierter Leistung aus 21.164 Anlagen.[9] Dies bedeutet eine Kapazität der Einzelanlagen von durchschnittlich 1,2 MW. Würde nur diese Zahl einzelner Anlagen leistungsverstärkt (»Repowering«), indem höher gestellte Anlagen zugelassen werden, um dadurch den Kapazitätsdurchschnitt der Anlagen auf etwa 2,5 MW anzuheben, so würde allein dadurch der Windkraftanteil an der Stromversorgung verdreifacht – von 9 auf 27 Prozent. Technisch spricht nichts dagegen, dass dies in kurzer Zeit realisiert werden könnte, und in wirtschaftlicher Hinsicht würden dadurch die Kosten für Windstrom sinken.

      Aber selbst diese Zielmarke wäre kurzfristig noch weiter überbietbar, da die installierten Windkraftanlagen sehr ungleich über die Bundesländer verteilt sind. Dies liegt nicht in erster Linie an unterschiedlichen Windverhältnissen, sondern an den sehr unterschiedlichen politischen Genehmigungskriterien.

      In der folgenden Tabelle wird die Zahl der installierten Anlagen mit der Flächengröße des jeweiligen Bundeslandes in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis ist äußerst aufschlussreich: Die Bandbreite unter den Flächenländern reicht von einer Anlage pro 5,6 qkm Fläche in Schleswig-Holstein bis zu einer pro 183,7 qkm in Bayern. Der Anteil der Windkraft am Nettostromverbrauch der Bundesländer reicht von etwa 47 Prozent in Sachsen-Anhalt, 41 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, fast 40 Prozent in Schleswig-Holstein und 38 Prozent in Brandenburg – darunter mit Sachsen-Anhalt und Brandenburg zwei Binnenländer – bis zu nur 2 Prozent in Hessen, 0,8 Prozent in Bayern und Baden-Württemberg. Diese Unterschiede sind nur politisch erklärbar: In den schlusslichternden Bundesländern herrscht eine gezielte politische Verhinderungsplanung.

      Wenn alle Bundesländer in den vergangenen Jahren die gleiche Genehmigungspraxis gehabt hätten wie Sachsen-Anhalt mit einer Anlagendichte von einer Anlage pro 9,1 qkm, so könnten in Deutschland im Jahr 2009 statt 21.164 bereits 37.000 Windkraftanlagen mit einer installierten Leistung – bei einem Kapazitätsdurchschnitt von 1,2 MW–von 44.000 MW stehen. Der Anteil der Windkraft am Nettostromverbrauch läge bei 16 statt nur neun Prozent! Mehr noch: Würde die bisher behinderte Entwicklung in den zurückliegenden Ländern in den nächsten zehn Jahren nachgeholt, und dies gleich mit einem Kapazitätsdurchschnitt von 2,5 MW, so würde sich daraus – bei gleichzeitig vorgenommener Kapazitätsanhebung der bereits installierten Anlagen – ein Anteil der Windkraft an der Stromversorgung von fast 50 Prozent ergeben. Zusammen mit dem bis dahin weiter anwachsenden Potenzial an Solarstrom sowie Strom aus Biogas und geothermischer Energie, einem wachsenden Anteil von Kleinwindkraftanlagen neben und auf Gebäuden (wofür es eine Reihe neuer, aktuell in den Markt drängender Anlagentechniken gibt) und – nicht zu vergessen – einer Steigerung des Anteils an Kleinwasserkraftanlagen bedeutet das: Die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien von 16 auf weit über 60 Prozent der Stromversorgung allein innerhalb eines Jahrzehnts ist keine Utopie, sondern eine greifbare Möglichkeit. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch in Deutschland würde allein damit von gegenwärtig zehn auf 40 Prozent ansteigen. Wenn gleichzeitig eine generelle Steigerung der Energieeffizienz um etwa 30 Prozent innerhalb von zehn Jahren eingeleitet wird, könnte der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch bereits auf über 70 Prozent anwachsen. Eine volle Umstellung der Energieversorgung könnte dann unschwer bis 2030 folgen. Die Anstrengung dafür– und die für diesen Ausbau der Windkraft oft unterstellte ästhetische Zumutung – ist deutlich geringer als die Zumutung für die Gesellschaft, wenn stattdessen weiter auf Atomkraft oder auf Kohlekraftwerke gesetzt wird.

      Affirmativer Expertenpessimismus

      Bei neuen Technologien sind später unglaublich klingende Einschätzungsfehler nicht ungewöhnlich. Sie gehören zur Politik-, Wirtschafts- und Technologiegeschichte und drücken einen Pessimismus aus, der für Experten konventioneller Ansätze typisch ist. 1878 erklärte die Western Union, die seinerzeit größte US-amerikanische Telekommunikationsgesellschaft: »Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns.« Lord Kelvin, Präsident der britischen Royal Society, erklärte 1895, dass niemand Flugmaschinen konstruieren könne, die schwerer seien als Luft. Harry M. Warner, einer der größten Filmproduzenten der USA, meinte 1927 zur Tonfilmtechnik: »Wer zur Hölle will die Schauspieler sprechen hören?« Ken Olsen, Chef der Digital Equipment Corporation (DEC), einer der ersten großen Computerfirmen in den USA, sagte 1977: »Es gibt keinen Grund für irgendein Individuum, einen Computer zu Hause haben zu wollen.« 1982 lehnte IBM, seinerzeit noch das führende Weltunternehmen für Informationstechnologien, den Kauf des noch jungen Unternehmens Microsoft ab, weil dieses nicht die geforderten 100 Mio. Dollar wert sei; IBM war der festen Überzeugung, die Computerzukunft liege in Zentralrechnern. Die weltweit bekannte Beratungsfirma McKinsey prognostizierte 1980 im Auftrag des US-Telekommunikationskonzerns ATT,