Arminuta. Donatella Di Pietrantonio

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Название Arminuta
Автор произведения Donatella Di Pietrantonio
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142734



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zu. Beim dritten Versuch beugte ich mich weit vor ins Leere, fühlte etwas Haariges auf meiner Handfläche und packte es, so fest ich konnte. Ich hatte den Fuchsschwanz errungen, und Vincenzos Begeisterung.

      Scheppernd verlangsamte das Karussell die kreisende Fahrt, bis die Sitze schließlich stillstanden. Ich stieg aus, machte zwei unfreiwillige, wackelige Schritte, aus Trägheit. Die Gänsehaut auf meinen Armen kam nicht von Kälte, nach den täglichen Gewittern wurde es immer sofort wieder schwül. Vincenzo trat auf mich zu und sah mir schweigend in die Augen, und seine funkelten. Ich hatte Mut bewiesen. Ich zog das Kleid zurecht, das im Wind durcheinandergeraten war. Er zündete sich eine Zigarette an und blies mir den Rauch des ersten Zugs ins Gesicht.

      7

      Als wir fast zu Hause angekommen waren, gab uns Vincenzo seinen Schlüssel. Er habe beim Karussell etwas vergessen, wir sollten ihm die Tür angelehnt lassen. Aber er kam und kam nicht, während ich wach lag, noch aufgeregt von dem Höhenflug. Auf der anderen Seite der Wand im Elternschlafzimmer ein rhythmisches Quietschen, dann nichts mehr. Die Stunden vergingen, und meine Beine zuckten unruhig, ich stieß mit dem Fuß gegen Adrianas Gesicht. Später erreichte mich die gewohnte Feuchtigkeit, ich stand auf und legte mich in Vincenzos immer noch leeres Bett. Als ich mich darin bewegte, begegneten mir die Gerüche seiner verschiedenen Körperzonen, Achseln, Mund, Geschlechtsbereich. Ich stellte ihn mir vor, wie er sich vor dem Wohnwagen mit seinem Zigeunerfreund über den Rauch der Zigaretten hinweg unterhielt. So schlief ich schließlich gegen Morgen ein.

      Zum Mittagessen tauchte er wieder auf, in Arbeitshosen voller angetrockneter Zementflecken. Niemand schien seine nächtliche Abwesenheit bemerkt zu haben. Als er an den Tisch trat, wechselten die Eltern nur einen Blick.

      Eiskalt schlug der Vater zu, ohne ein Wort. Vincenzo verlor das Gleichgewicht, im Fallen landete seine Hand in dem Teller voller Pasta mit Soße aus den Tomaten, die er in den Tagen zuvor bei der Feldarbeit verdient hatte. Auf dem Boden kauerte er sich abwehrend zusammen und wartete mit geschlossenen Augen, dass es vorbei wäre. Als sich die Füße des Vaters entfernten, rollte er ein wenig zur Seite und blieb auf dem Rücken liegen, um sich auf dem kühlen Fußboden zu erholen.

      »Los, esst schon, ihr«, befahl die Mutter, das Baby im Arm. Es hatte bei dem Aufruhr nicht geweint, als sei es daran gewöhnt. Die Jungen gehorchten augenblicklich, Adriana etwas lustlos und später, nachdem sie die Tischdecke wieder glatt gezogen hatte. Nur ich war erschrocken, weil ich Gewalt noch nie aus der Nähe gesehen hatte.

      Ich ging zu Vincenzo hin. Ein rascher, oberflächlicher Atem hob seine Brust. Aus seinen Nasenlöchern liefen zwei Blutrinnsale in den offenen Mund, und ein Backenknochen war schon leicht geschwollen. An seiner Hand klebte noch Sugo. Ich hielt ihm das Taschentuch hin, das ich einstecken hatte, doch er drehte sich weg, ohne es anzunehmen. Daraufhin setzte ich mich neben ihn auf den Boden, wie ein Punkt neben seinem Schweigen. Er wusste, dass ich da war, und schickte mich nicht weg.

      »Das nächste Mal mach ich ihn zu Hackfleisch«, knurrte er zwischen den Zähnen, als er hörte, wie der Vater vom Tisch aufstand. Inzwischen hatten alle fertig gegessen, Adriana fing an abzuräumen, und der Kleine weinte vor Müdigkeit.

      »Wenn du nichts essen willst, ist’s deine Sache«, sagte die Mutter im Vorbeigehen zu mir, »aber den Abwasch machst du trotzdem, heute bist du dran.« Sie deutete auf das volle Spülbecken. Sie haben sich nicht einmal angesehen, der Sohn und sie.

      Vincenzo stand auf und säuberte im Bad sein Gesicht. Er stopfte sich ein bisschen zusammengerolltes Klopapier in die Nasenlöcher und lief hastig zur Arbeit, die Mittagspause war schon eine Weile zu Ende.

      Während sie das Geschirr nachspülte, das ich ihr noch seifig reichte, erzählte Adriana mir von den Fluchten ihres Bruders. Beim ersten Mal, mit vierzehn, war er den Ausstellern nach einem Fest im Nachbardorf gefolgt. Er hatte ihnen geholfen, die Buden abzubauen, und sich, als sie aufbrachen, auf der Ladefläche eines Lastwagens versteckt. Beim nächsten Halt war er herausgekommen, voller Angst, nach Hause zurückgeschickt zu werden. Doch die Zigeuner hatten ihn ein paar Tage behalten, er arbeitete mit ihnen, während sie durch die Provinz tingelten. Als sie ihn dann in einen Bus setzten, der ihn wieder zu seiner Familie bringen sollte, hatten sie ihm zum Andenken ein kostbares Geschenk gemacht.

      »Papa hat ihn nach Strich und Faden verprügelt«, sagte Adriana, »aber den Silberring mit den geheimnisvollen Zeichen hat er behalten. Den hat ihm sein Freund geschenkt, den du gestern gesehen hast.«

      »Aber Vincenzo trägt doch gar keinen Ring.« »Er hat ihn versteckt. Manchmal streift er ihn über, dann dreht er ihn zwischen den Fingern und versteckt ihn wieder.«

      »Wo denn? Weißt du das?«

      »Nein, das wechselt. Es muss ein Zauberring sein, wenn Vincenzo ihn anfasst, ist er danach ’ne Weile glücklich.«

      »Hat er heute Nacht auch bei den Zigeunern geschlafen?«

      »Ich glaub schon. Wenn er mit diesem zufriedenen Gesicht heimkommt, war er immer bei denen. Dabei weiß er genau, dass er dann Prügel kriegt.«

      Die Mutter rief sie zum Wäscheabnehmen auf den Balkon. Im Vergleich zu Adriana musste ich viel weniger im Haushalt helfen. Vielleicht wollte sie mich schonen oder vergaß, dass ich da war. Bestimmt traute sie mir nicht viel zu, und damit hatte sie nicht Unrecht. Manchmal verstand ich nicht einmal, was sie befahl, in diesem schnellen, abgehackten Dialekt.

      »Weißt du noch, wie es war, als Vincenzo das erste Mal abgehauen ist?«, fragte ich, als Adriana in die Küche kam, um die zusammengelegten Lappen aufzuräumen. »War sie verzweifelt? Haben sie die Carabinieri benachrichtigt?«

      Adriana runzelte die Stirn, bis ihre Brauen fast in der Mitte zusammenstießen.

      »Die Carabinieri? Nein. Papa hat ihn mit dem Auto gesucht. Geweint hat die da nicht, aber immerhin den Mund gehalten«, antwortete sie und wies mit dem Kinn in Richtung des Geschreis gegen irgendeinen Sohn, drüben im Zimmer.

      8

      Um wenigstens ein bisschen zu schlafen, dachte ich ans Meer. Das Meer wenige Dutzend Meter von dem Haus entfernt, das ich bis vor einigen Tagen für mein Zuhause gehalten und wo ich von klein auf gewohnt hatte. Nur die Straße trennte den Garten vom Strand; wenn Südwestwind wehte, schloss meine Mutter die Fenster und ließ die Rollläden ganz herunter, damit der Sand nicht in die Zimmer drang. Aber das Brausen der Wellen hörte man, kaum gedämpft, und nachts wiegte es einen in den Schlaf. Daran dachte ich, wenn ich mit Adriana im Bett lag.

      Wie Märchen erzählte ich ihr von den Spaziergängen mit meinen Eltern auf der Seepromenade, bis zur bekanntesten Eisdiele der Stadt. Sie ging mit Trägerkleid und rot lackierten Zehennägeln an seinem Arm, während ich vorauslief, um mich anzustellen. Gemischtes Fruchteis mit Schlagsahne für mich, Schokolade und Kaffee für die beiden. Adriana wusste gar nicht, dass es so viele Sorten gibt, ich musste sie ihr mehrmals aufzählen.

      »Wo liegt diese Stadt überhaupt?«, fragte sie begierig, als handle es sich um einen magischen Ort.

      »Etwa fünfzig Kilometer von hier.«

      »Fahr doch mal mit mir hin, dann zeigst du mir auch das Meer. Und den Eisladen.«

      Ich erzählte ihr von den Abendessen im Garten. Ich deckte den Tisch, während die Badegäste vom Strand kamen und wenige Meter entfernt auf dem Fußweg hinter dem Gartenzaun vorbeigingen. Sie schlurften in ihren Holzsandalen, und an ihren Fesseln rieselten die Sandkörnchen herab.

      »Und was habt ihr gegessen?«, wollte Adriana wissen.

      »Gewöhnlich Fisch.«

      »Also Thunfisch aus der Dose?«

      »Nein, nein, es gibt noch ganz viele andere. Wir haben sie immer frisch auf dem Fischmarkt gekauft.«

      Ich beschrieb ihr die Tintenfische, indem ich mit den Fingern die Fangarme nachahmte. Dann die ausgestellten, sich im Todeskampf windenden kleinen Bärenkrebse, die ich fasziniert beobachtete. Sie starrten mit den beiden dunklen Flecken am Schwanz zurück wie mit vorwurfsvollen Augen. Auf dem Rückweg, am Bahndamm entlang zusammen mit meiner