Название | Archiv der verlorenen Kinder |
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Автор произведения | Valeria Luiselli |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143366 |
Aber wo genau fahren wir denn hin? fragten die Kinder.
Wir wussten es immer noch nicht, hatten uns auf nichts einigen können. Ich wollte nach Texas, dem Bundesstaat mit den meisten Internierungslagern für Kinder. Es gab Tausende von Kindern, die in Galveston, Brownsville, Los Fresnos, El Paso, Nixon, Canutillo, Conroe, Harlingen, Houston und Corpus Christi weggesperrt waren. Mein Mann wollte, dass die Reise in Arizona endete.
Warum Arizona? fragten wir alle.
Und wo in Arizona? wollte ich wissen.
Eines Abends schließlich breitete mein Mann die große Karte auf unserem Bett aus und rief die Kinder und mich ins Schlafzimmer. Er fuhr mit dem Zeigefinger von New York bis nach Arizona, klopfte dann zweimal auf eine Stelle, einen winzigen Punkt in der südwestlichen Ecke des Staates, und sagte:
Da.
Was ist da? fragte der Junge.
Da sind die Chiricahua Mountains, sagte er.
Und? fragte der Junge.
Da ist das Herz der Apacheria, antwortete er.
Und da fahren wir hin? fragte das Mädchen.
Ja, genau, erwiderte mein Mann.
Und warum dahin? wollte der Junge wissen.
Weil dort die letzten Chiricahua-Apachen gelebt haben.
Na und? gab der Junge zurück.
Und gar nichts, da fahren wir hin, zur Apacheria, wo die letzten freien Völker auf dem gesamten amerikanischen Kontinent gelebt haben, bevor sie sich den Bleichgesichtern ergeben mussten.
Was ist ein Bleichgesicht? fragte das Mädchen, das sich vermutlich ein schreckliches Wesen vorstellte.
So haben die Chiricahua die weißen Europäer und Amerikaner genannt.
Warum? wollte sie wissen, und auch ich war neugierig, doch der Junge schnappte sich die Zügel der Unterhaltung und lenkte sie in seine Richtung.
Aber warum Apachen, Pa?
Darum.
Darum was?
Weil sie die Letzten einer Epoche waren.
PRONOMEN
Es war entschieden. Wir würden bis zur Südostspitze von Arizona fahren, wo er bleiben würde, oder besser, wo er und der Junge für eine unbestimmte Zeit bleiben würden, das Mädchen und ich jedoch vermutlich nicht. Wir würden die ganze Strecke mit ihnen fahren und am Ende des Sommers zurückkehren. Ich würde die Tondokumentation über Flüchtlingskinder beenden und mir dann einen Job suchen müssen. Sie würde wieder zur Schule gehen. Ich konnte nicht einfach nach Arizona ziehen und alles hinter mir lassen, außer ich fand eine Möglichkeit oder einen Grund, meinem Mann in sein neues Abenteuer zu folgen, ohne meine eigenen Pläne und Projekte aufzugeben. Wobei mir nicht klar war, ob er abgesehen von diesem gemeinsamen Sommer überhaupt wollte, dass man ihm folgte.
Ich, er, wir, sie: Während wir die Bedingungen des Umzugs aushandelten, wechselten die Pronomen in unserer verwirrten Syntax ständig den Platz. Wir unterhielten uns jetzt zögerlicher über alles, selbst über Banalitäten, wir redeten auch leiser, als gingen wir mit unseren Zungen auf Zehenspitzen, wir waren vorsichtig, als hätten wir panische Angst, auf dem plötzlich sehr instabilen Boden unseres Familienterrains auszurutschen und zu fallen. Es gibt ein Gedicht von Anne Carson, es heißt »Zurückhaltendes Sonett«, das im Grunde auch nicht weiterhilft. Darin heißt es, Pronomen seien »Teil eines Systems, das mit Schatten streitet«, aber vielleicht meint sie auch, wir – Menschen, nicht Pronomen – seien »Teil eines Systems, das mit Schatten streitet«. Andererseits ist wir ein Pronomen, und sie beabsichtigt vielleicht diese Doppelbedeutung.
Jedenfalls wurde die Frage, wie die endgültige Stellung all unserer Pronomen letztlich unser Leben bestimmte, unser Schwerpunkt. Sie wurde der dunkle, stumme Kern, um den unsere Gedanken und Fragen kreisten.
Was machen wir, wenn wir in der Apacheria sind? fragte der Junge wiederholt in den folgenden Wochen.
Ja, was dann? fragte ich meinen Mann später, als wir ins Bett krochen.
Dann sehen wir weiter, sagte er.
Die Apacheria gibt es natürlich nicht mehr wirklich. Aber sie existierte im Kopf meines Mannes und in den Geschichtsbüchern des neunzehnten Jahrhunderts, und sie beschäftigte zunehmend die Fantasie der Kinder:
Gibt es da Pferde?
Gibt es da Pfeil und Bogen?
Haben wir Betten, Spielzeug, Essen, Feinde?
Wann fahren wir los?
Wir erklärten ihnen, dass wir am Tag nach dem zehnten Geburtstag des Jungen aufbrechen würden.
KOSMOLOGIEN
Während der letzten Tage in New York hatten wir plötzlich eine Ameisenplage in unserer Wohnung. Große schwarze Ameisen, geformt wie Achten, mit einem selbstmörderischen Hang zu Zucker. Wenn wir ein Glas mit etwas Süßem in der Küche stehen ließen, schwammen darin am nächsten Morgen zwanzig Ameisenleichen, ertrunken in ihrer eigenen Genusssucht. Sie erforschten Küchentheken, Schränke, die Spüle – alle üblichen Schlupfwinkel für Ameisen. Und dann krabbelten sie auf unsere Betten, unsere Nachttische und schließlich auf unsere Ellbogen und Hälse. Eines Abends war ich überzeugt, wenn ich lange genug still säße, könnte ich hören, wie sie in den Wänden herummarschierten und die unsichtbaren Adern unserer Wohnung übernahmen. Wir versuchten, jede Ritze zwischen Wand und Boden mit Klebeband abzudichten, aber nach wenigen Stunden löste es sich. Der Junge hatte die viel bessere Idee, die Ritzen mit Plastilin zu verkleben, und eine Zeit lang erfüllte es seinen Zweck, aber die Ameisen fanden bald wieder einen Weg in die Wohnung.
Eines Morgens ließ das Mädchen nach dem Duschen eine schmutzige Unterhose auf dem Badezimmerboden liegen, und als ich sie ein paar Stunden später aufhob, um sie in den Wäschekorb zu werfen, wimmelte sie von Ameisen. Ich sah darin einen groben Verstoß, ein schlechtes Zeichen. Der Junge fand das Ganze faszinierend, das Mädchen höchst amüsant. Beim Abendessen erzählten die Kinder den Vorfall ihrem Vater. Ich hätte gern gesagt, dass diese ominösen Ameisen nichts Gutes bedeuteten. Aber wie sollte ich meine Befürchtung erklären, ohne verrückt zu klingen? Also sagte ich nur zum Teil, was ich dachte:
Eine Katastrophe.
Mein Mann lauschte dem Bericht der Kinder, nickte, lächelte und erklärte ihnen dann, dass Ameisen in der Mythologie der Hopi als heilig galten. Ameisen-Menschen waren Götter, die Leute in der Oberwelt vor Katastrophen retteten, indem sie sie in die Unterwelt brachten, wo sie in Ruhe und Frieden lebten, bis die Gefahr vorüber war und sie wieder in die Oberwelt zurückkehren konnten.
Und vor welcher Katastrophe wollen uns die Ameisen hier retten? fragte der Junge.
Ich fand die Frage gut, unfreiwillig spitz vielleicht. Mein Mann räusperte sich, antwortete aber nicht. Dann fragte das Mädchen:
Was ist eine Katastrophe?
Etwas ganz Schlimmes, sagte der Junge.
Sie saß schweigend da, betrachtete hoch konzentriert ihren Teller und drückte mit ihrer Gabel den Reis platt. Dann blickte sie sehr ernst zu uns auf und gab einen merkwürdigen Wust von Ideen zum Besten, als wäre der Geist eines deutschen