Winzige Gefährten. Ed Yong

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Название Winzige Gefährten
Автор произведения Ed Yong
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783956142482



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auch nur in die Moleküle eines einzigen Mikroorganismenprodukts, nämlich 4EPS – zu Verhaltensänderungen führen können. Bisher haben wir erfahren, dass Mikroorganismen sich auf die Entwicklung von Darm und Knochen, Blutgefäßen und T-Zellen auswirken können. Jetzt wissen wir, dass sie auch das Gehirn beeinflussen können, jenes Organ, das uns mehr als jedes andere zu dem macht, was wir sind. Es ist ein beunruhigender Gedanke. Wir legen so großen Wert auf unseren freien Willen, dass die Aussicht, unsere Eigenständigkeit an unsichtbare Kräfte zu verlieren, tief sitzende gesellschaftliche Ängste aufwühlt. Unsere düstersten Vorstellungen sind angefüllt mit Orwell’schen Schreckensvisionen, zwielichtigen Intrigen und Super-Bösewichten, die unseren Geist kontrollieren. Und nun stellt sich heraus, dass die gehirnlosen, mikroskopisch kleinen, einzelligen Lebewesen, die in unserem Inneren zu Hause sind, schon seit eh und je unsere Fäden in der Hand halten.

      Am 6. Juni 1822 wurde der zwanzigjährige Pelzhändler Alexis St. Martin auf einer Insel in den Großen Seen Nordamerikas versehentlich von einem Gewehrschuss in die Flanke getroffen. Als der einzige Arzt der Insel, ein Militärchirurg namens William Beaumont, an den Unfallort kam, blutete St. Martin schon seit einer halben Stunde. Seine Rippen waren gebrochen und die Muskeln zerfetzt. Aus der Körperseite ragte ein Stück verbrannte Lunge heraus. Der Magen hatte ein fingerdickes Loch, aus dem Nahrung herauslief. »Angesichts dieses Dilemmas hielt ich meinen Versuch, sein Leben zu retten, für vollkommen nutzlos«, schrieb Beaumont später.37

      Er versuchte es dennoch und brachte St. Martin in sein Haus. Tatsächlich gelang es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit nach vielen Operationen und monatelanger Pflege, den Zustand des Patienten zu stabilisieren. Vollkommen geheilt wurde St. Martin allerdings nie. Sein Magen wuchs an dem Loch in der Haut fest, sodass eine dauerhafte Verbindung zur Außenwelt entstand – eine »unfallbedingte Körperöffnung«, wie Beaumont es formulierte. Da die Pelztierjagd für ihn nun nicht mehr infrage kam, schloss sich St. Martin Beaumont als Handwerker und Diener an. Für den Arzt wurde der Mann zum Versuchskaninchen. Zu jener Zeit wusste man noch so gut wie nichts dar -über, wie Verdauung funktioniert. Beaumont erkannte in St. Martins Verletzung ganz buchstäblich ein Fenster zur Erkenntnis. Er sammelte Proben der Magensäure, und manchmal schob er Lebensmittel durch das Loch, um dann in Echtzeit zuzusehen, wie sie verdaut wurden. Die Experimente setzten sich bis 1833 fort, erst danach trennten sich die Wege der beiden Männer. St. Martin kehrte nach Quebec zurück und starb dort als Bauer im Alter von achtundsiebzig Jahren. Beaumont wurde als der Vater der Verdauungsphysiologie bekannt.38

      Neben vielen anderen Beobachtungen stellte Beaumont fest, dass sich St. Martins Stimmung auf den Magen auswirkte. Wenn der Mann wütend oder reizbar wurde – und man kann sich kaum vorstellen, dass er nicht verärgert war, wenn der Chirurg ihm Lebensmittel durch ein Loch in der Körperseite schob –, veränderte sich das Tempo der Verdauung. Es war das erste eindeutige Anzeichen dafür, dass das Gehirn sich auf den Darm auswirkt. Heute, fast zwei Jahrhunderte später, kommt uns dieses Prinzip nur allzu vertraut vor. Wenn sich unsere Stimmung ändert, vergeht uns der Appetit, und die Stimmung verändert sich, wenn wir Hunger haben. Psychische Probleme und Verdauungsstörungen gehen häufig Hand in Hand. Die Biologen sprechen von einer »Darm-Gehirn-Achse«, einem Austausch zwischen Darm und Gehirn, der in beide Richtungen verläuft.

      Heute wissen wir, dass die Mikroorganismen des Darms in beiden Richtungen ein Teil dieser Achse sind. Seit den 1970er-Jahren wurde in – einem schmalen Rinnsal gleichenden – Studien gezeigt, dass jede Form von Stress – Hunger, Schlaflosigkeit, Trennung von der Mutter, plötzliche Gegenwart eines aggressiven Artgenossen, unangenehme Temperaturen, drangvolle Enge und sogar laute Geräusche – das Mikrobiom im Mausdarm verändern kann. Auch das Umgekehrte gilt: Das Mikrobiom kann sich auf das Verhalten des Wirtes auswirken, so auf seine sozialen Einstellungen und auf die Fähigkeit zur Stressbewältigung.39

      Im Jahr 2011 wurde aus dem Rinnsal an Studien ein breiter Strom. Innerhalb weniger Monate veröffentlichten mehrere Wissenschaftler faszinierende Artikel, in denen gezeigt wurde, dass Mikroorganismen sich auf Gehirn und Verhalten auswirken können.40 Am Karolinska-Institut in Schweden fand Sven Petterson heraus, dass keimfreie Mäuse weniger ängstlich sind und mehr Risiken eingehen als ihre mit Keimen versehenen Vettern. Wurden diese Mäuse aber als Jungtiere von Mikroorganismen besiedelt, zeigten sie als ausgewachsene Tiere das übliche, vorsichtige Verhalten. Auf der anderen Seite des Atlantiks gelangte Stephen Collins von der McMaster University fast durch Zufall zu einer ganz ähnlichen Entdeckung. Als ausgebildeter Gastroenterologe ging er der Frage nach, welche Wirkung probiotische Produkte im Darm keimfreier Mäuse entfalten. »Eine meiner technischen Assistentinnen hat zu mir gesagt: Mit diesem Probiotikum stimmt etwas nicht, es macht die Mäuse schreckhaft«, berichtet er. »Sie wirken plötzlich anders.« Damals arbeitete Collins mit zwei allgemein gebräuchlichen Stämmen von Labormäusen, von denen der eine von Natur aus schreckhaft und ängstlicher ist als der andere. Siedelte er Mikroorganismen aus dem ängstlichen Stamm auf die keimfreien Exemplare der unerschrockenen Mäuse an, wurden auch sie ängst licher. Umgekehrt war es genauso: Keimfreie Exemplare der ängst lichen Mäuse wurden durch die Mikroben ihrer mutigeren Vettern ebenfalls mutiger. Ein dramatischeres Ergebnis hätte Collins sich nicht wünschen können: Durch Austausch der Bakterien im Darm der Tiere hatte er auch einen Teil ihres Charakters ausgetauscht.

      Wie wir bereits erfahren haben, sind keimfreie Mäuse seltsame Tiere: Viele ihrer physiologischen Veränderungen könnten auch ihr Verhalten beeinflussen. Deshalb war es wichtig, dass John Cryan und Ted Dinan von der University of Cork in Irland zu ähnlichen Befunden gelangten, obwohl sie normale Mäuse mit vollständigem Mikrobiom verwendet hatten. Sie arbeiteten mit dem gleichen Stamm ängstlicher Mäuse, den auch Collins studiert hatte, und es gelang ihnen, das Verhalten der Tiere zu ändern, indem sie ihnen einen einzigen Stamm von Lactobacillus rhamnosus fütterten – ein Bakterium, das in Joghurt und anderen Milchprodukten häufig zu finden ist. Nachdem die Mäuse diesen als JB-1 bezeichneten Stamm verzehrt hatten, konnten sie ihre Angst besser überwinden: Sie verbrachten mehr Zeit in den frei liegenden Teilen eines Labyrinths oder in der Mitte einer offenen Fläche. Außerdem wurden sie widerstandsfähiger gegen negative Stimmungen: Ließ man sie in eine Flasche mit Wasser fallen, paddelten sie längere Zeit aktiv herum, statt sich ziellos treiben zu lassen.41 Mit Versuchen dieser Art überprüft man auch häufig die Wirksamkeit von Psychopharmaka, und JB-1 hatte hier einen ganz ähnlichen Effekt wie Wirkstoffe mit angstlösenden und antidepressiven Eigenschaften. »Es war, als hätten die Mäuse niedrig dosiertes Prozac oder Valium erhalten«, sagt Cryan.

      Das Team wollte genauer herausfinden, wie das Bakterium wirkt, und studierte dazu das Gehirn der Mäuse. Wie die Wissenschaftler feststellten, sorgt JB-1 dafür, dass verschiedene Gehirnteile, die an Lernen, Gedächtnis und Gefühlssteuerung beteiligt sind, anders auf GABA reagieren, eine Substanz, die beruhigend wirkt und die Aktivität erregter Nervenzellen dämpft. Auch hier zeigten sich verblüffende Parallelen zu seelischen Störungen des Menschen: Probleme mit der Reaktion auf GABA werden mit Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht, und angstlösende Medikamente aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine verstärken die Wirkung von GABA. Die Arbeitsgruppe fand auch heraus, wie die Mikroorganismen das Gehirn beeinflussen. Ihr Hauptverdächtiger war der Vagusnerv, ein langer, verzweigter Nerv, der Signale zwischen dem Gehirn und Bauchorganen wie dem Darm übermittelt – womit er die Darm-Gehirn-Achse physisch verkörpert. Die Wissenschaftler durchtrennten ihn und stellten fest, dass das seelenverändernde JB-1 seinen Einfluss vollständig verlor.42

      In diesen und nachfolgenden Studien wurde also wiederholt gezeigt, dass sich durch Veränderungen im Mikrobiom einer Maus auch ihr Verhalten, die chemischen Substanzen im Gehirn und ihre Anfälligkeit auf die Mausversion von Angst und Depressionen verändern. Es gibt allerdings auch viele Widersprüchlichkeiten. In manchen Studien stellte sich heraus, dass Mikroorganismen nur das Gehirn sehr junger Mäuse beeinflussen; in anderen waren auch halbwüchsige und ausgewachsene Tiere betroffen. In einigen Studien machten Bakterien die Nagetiere weniger ängstlich, in anderen wurden sie ängstlicher. Einige Untersuchungen zeigten, dass der Vagusnerv unentbehrlich ist; andere betonen, die Mikroorganismen könnten auch Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin produzieren, die Nachrichten von einem Neuron zum anderen transportieren.43 Die Widersprüche kommen nicht unerwartet: Wenn zwei so ungeheuer komplexe Dinge wie das Mikrobiom und das Gehirn