Als Medea Rache übte und die Liebe fand. Tamar Tandaschwili

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Название Als Medea Rache übte und die Liebe fand
Автор произведения Tamar Tandaschwili
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746569



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weint bitterlich.

      »Ich kann Sie verstehen, Frau Tsertswadse, ich kann Ihren Schmerz verstehen. Aber vielleicht könnten Sie uns zumindest mit der Kleidung, den Büchern und dem Ausweis helfen? Ich hole sie selbst ab, damit Ihr Mann keine Umstände hat. Sprechen Sie mit ihm?«

      Am Abend ruft Gega Tsertswadse Berdia an und sagt barsch: »Ich habe den Koffer zu seinem Patenonkel gebracht. Fahren Sie hin und holen Sie ihn ab.« Berdia hat während seines Praktikums gelernt, welche strategische Bedeutung es im Umgang mit der Familie des Betreuten hat, sich zu bedanken. Deshalb schreibt er Tekla Tsertswadse über Skype: »Vielen Dank, Frau Tsertswadse, ich fahre später zu Laschas Patenonkel und hole seine Sachen ab. Ohne Sie wäre das nicht gelungen. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, melden Sie sich jederzeit. Mit freundlichen Grüßen, Berdia Mikiaschwili.«

      Er stellt einen mittelgroßen grauen Koffer auf den Wohnzimmertisch. Vor dem Koffer sitzt Lascha Tsertswadse, neben ihm sitzen – Berdia und Oma. Berdia bedeutet ihr mit den Augen, dass sie in die Küche gehen und den Jungen mit seinem persönlichen Hab und Gut alleine lassen sollten.

      »Ach, mein Lieber, hast du gesehen, wie sein Blick erloschen ist, als er den Koffer sah? Er ist sich bewusst geworden, dass er nicht mehr nach Hause kann«, meint die Oma.

      Die Teekanne pfeift, sie schenken ein, trinken aus, es pfeift wieder, sie schenken ein und trinken. Nach der vierten Runde stehen sie auf. Neugierde siegt über Professionalität und Berdia späht ins Zimmer. Auf dem Eichenparkett im Wohnzimmer der Mikiaschwilis ist eine Steppdecke ausgebreitet. Ein Fetzen von Laschas Lieblings-T-Shirt mit Schriftzug liegt auf dem abgerissenen Einband seines Tagebuchs. Die von der nagelneuen Jeans abgerupfte Hosentasche hat sich auf den zerschnittenen Pandasocken wiedergefunden. Der in der Mitte auseinandergebrochene Laptop mit dem abgebissenen Apfel samt seiner Schutzhülle liegt traurig auf dem abgeschnittenen Ärmel vom Kapuzenpulli der Uni Thessaloniki. Mitten auf der sorgfältig zusammengeflickten Steppdecke sitzt Lascha Tsertswadse und reibt seine Handflächen so stürmisch aneinander, als wolle er ein Feuer entfachen.

      »Er zieht sich die Hosentaschen bis zu den Knien herunter und läuft den ganzen Tag mit herauslugender Unterhose rum. Ich glaube, etwas stimmt mit seinem Geschlechtsteil nicht.« Jede Woche schickte die Kindergartenleiterin nach seiner Großmutter. Sie waren bei drei Kinderärzten. Einer war in Rustawi, einer in Tbilissi, einer – war ein Professor. Der Rustaweler und der Professor stellten dieselbe Diagnose: Er habe zu viele Salze im Urin und müsse nach jedem Wasserlassen gründlich mit Milch gereinigt werden. Der Tbilisser Arzt sah aus wie ein Sumoringer. Er hatte einen kurzen, breiten Hals und ein sackartiges Doppelkinn. Er bat die Großmutter, sie alleine zu lassen, hob den Patienten auf den Tisch und fragte:

      »Na, mein Junge, ziehst du dir gerne die Hose runter?«

      »Ja.«

      »Ich ziehe mir gerne die Ärmel hoch, guck!«

      Er zog sich das senfgelbe Hemd bis zu den Ellbogen hoch.

      »Cool, oder?«

      »Jaaa!«

      »Meine Frau schimpft immer mit mir, ich musste fast auch zum Arzt.«

      Lascha musste kichern. »Du bist aber ein netter Arzt. Du gibst mir bestimmt keine Spritze.«

      »Kannst du raten, wieso ich meine Ärmel gerne hochziehe?«

      »Ich weiß es! Ich weiß es!«

      »Du weißt es? Bist du dir sicher?«

      »Jaaaaa!«

      »Du hast zwei Versuche. Wenn du es errätst, kannst du dir damit anhören, was im Heizungsrohr vor sich geht. Alles klar?«

      Er nahm das Stethoskop von der Schreibtischlampe und legte es um Laschas Hals.

      »Jaa!«

      »Lascha Tsertswadses erster Versuch!«

      »Du magst deine Arme nicht und willst sie dir abschneiden!«

      »Hmm! Gar nicht so schlecht! Siehst du, was für Pranken ich habe, wer mag so was schon! Und? Hast du noch eine Idee, junger Mann?«

      »Was?«

      »Noch eine Idee, wieso ich meine Ärmel hochziehe?«

      »Jaa!«

      »Ich höre!«

      »Du magst dein Hemd nicht. Du magst Kleider, aber du darfst keine anziehen. Und wenn du heimlich eins anziehst, schimpfen sie mit dir!«

      »Recht haben Sie, junger Herr Tsertswadse! Ich wette, dass ich auch raten kann, wieso du deine Hose herunterziehst.«

      »Was?«

      »Ich wette, dass ich es erraten kann.«

      »Nein! Du errätst es nicht!«

      »Na gut. Wenn ich es nicht errate, schenke ich dir mein Stethoskop. Abgemacht?«

      »Abgemacht!«

      »Der junge Herr Tsertswadse zieht seine Hose runter, weil er lieber ein Kleid tragen möchte, aber sie erlauben es ihm nicht und schimpfen mit ihm. Habe ich recht?«

      »Jaaaaa!«

      »Soll ich noch etwas erraten?«

      »Jaa!«

      »Aber das flüstere ich dir ins Ohr, damit es niemand hört, ja?«

      »Okay.«

      Er lehnte den kürbisartigen Kopf zu Lascha und flüsterte:

      »Der junge Herr Tsertswadse mag seinen Penis nicht und wünschte, er würde verschwinden.«

      »Jaaa!«

      »Aber er ist nun einmal da, genauso wie meine Arme. Was machen wir denn nun?«

      »Du schneidest deine Arme ab, wenn du groß bist.«

      Und er schwieg verschmitzt.

      Der Tbilisser Arzt sagte zu Lascha Tswertswadses Großmutter, dass ihr Enkel »besonders« sei. Dr. Wascha graute es bei der Vorstellung, irgendein fortschrittsverdrossener Moralist könnte diesem Dreikäsehoch, der als Frau geboren wurde und als Frau sterben würde, Hormone zum Ansporn einer aggressiven maskulinen Natur verabreichen. Deshalb beschwichtigte er sie: »Es geht von alleine weg, wenn er älter wird. Sie brauchen ihn nicht grundlos zu quälen.« Beim Abschied rief er ihnen zu: »Ich brauche nichts weiter von Ihnen, kommen Sie nur ab und zu zur Kontrolle vorbei. Falls er im Kindergarten oder in der Schule Probleme bekommen sollte, geben Sie denen meine Nummer und ich kümmere mich um den Rest.«

      Lascha Tsertswadse hatte das Stethoskop in beiden Ohren stecken und lauschte andächtig dem Heizungsrohr.

      5. YOGA PARADISE

      »Haben Sie Ihrem Kind schon einmal beim Masturbieren geholfen?«

      »Wie bitte?«

      Irakli Tschimagadse nahm Tinas fassungsloses Gesicht einfach nicht zur Kenntnis.

      »Nach dem Sex«, erzählte er weiter, »summt sie stundenlang vor sich hin. Anfangs habe ich nicht verstanden, was sie summte, bis ich irgendwann herausfand, dass es sich um den Soundtrack einer türkischen Seifenoper handelte. Die Pflegerin guckt manchmal so was. Der Sexologe meinte, sie solle keine Erotikszenen zu Gesicht bekommen.«

      »Wie alt ist Ihre Tochter?«

      »Sechzehn.«

      »Okay.«

      »Sie hat ein Nerventrauma. Sie spricht zwar ein wenig und kann gut laufen, aber letztes Jahr wurde sie geschlechtsreif.«

      Irakli erzählte geordnet und sachlich wie ein unvoreingenommener Spezialist.

      »Können Sie der Pflegerin nicht sagen, dass sie den Fernseher abdrehen soll?«

      »Sie ist unsere elfte Pflegerin in Folge und hat schon über ein Jahr ausgehalten. Likuna hat jeden Tag Anfälle. Der längste