Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

Читать онлайн.
Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



Скачать книгу

sich aus dem Bett, zieht die Tasche heran und das Handy aus dem Gewirr ineinander verwickelter Dinge – ein Foto von Joel mit Diogo, ein Foto von Sami –, drückt auf Nachrichten. Klickt auf den Namen und tippt langsam eine Nachricht.

      23:00: «Mon cher Sami. War in der alten Synagoge. Eine Ruine. Sicht auf weidende Ziegen. Durch die zerbrochenen Fenster. Reste vom goldenen Dach. Die prächtigen Fresken. Dieser lächerlich unscheinbare Haufen Stein. Sitz einer monotheistischen Religion. So unglaublich aufgeladen, explosiv, umkämpft, in den Himmel gehoben, zerstört, wieder aufgebaut, erobert, verloren. Ursache von Krieg. Symbol der Erlösung. Sitz der einen unteilbaren Wahrheit. Es könnte auch eine Moschee sein. Oder eine Kirche. Oder ein asiatischer Tempel.»

      23:15: «Ma chère Selma. Bin zurück aus dem Libanon. Meine Mutter grüsst dich. Sie hat mir Gurken aus dem Garten und rote Linsen mitgegeben. Traurig! Du bist nicht bei mir! Wir könnten zusammen essen. Ich hab einen schönen Rotwein gekauft. Es gibt bald Krieg. Wenn nicht jetzt, dann nächstes Jahr.»

      23:22: «Mon cher Sami. War auf dem Markt. Geschrei. Verkehr. Lärm. Geht eine traditionelle Ukrainerin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Armenierin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Jüdin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Tatarin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Du redest vom Krieg?»

      23:40: «Ma chère Selma. Schön, wie du schreibst. Politik ist kompliziert. Die Hisbollah ist mächtig. Unendlich viel Geld. Modernste Waffen. Hervorragend ausgebildete Leute. Wart nur ab: Es gibt Krieg! Die schiitische Hisbollah hasst die sunnitischen Palästinenser in den Flüchtlingslagern und die sunnitischen Rebellen in Syrien. In meinem Kopf gibt es trotzdem die Idee: Ich kehre nach Hause zurück.»

      23:42: «Mon cher Sami. Du verdienst genug Geld, um Land und ein Haus zu kaufen. Du hättest in Mashgara ein gutes Leben.»

      23:50: «Ma chère Selma. Libanon ist schlecht, keine Regierung, keine Gesetze, Korruption und überteuerter Boden.»

      23:54: «Mon cher Sami. Der Mensch ist ein zerbrechliches Gut. Und das Leben ein grober, ungeduldiger, wütender Postbote.»

      00:00: «Du schreibst so schön. Und du hast recht. In der Hisbollah hätte ich Karriere gemacht und wäre eine bedeutende Persönlichkeit geworden. Was ist aber aus mir geworden? Ein gewöhnlicher Versicherungsangestellter ohne Frau und Kind.»

      00:02: «Mon cher Sami. Bist du verrückt? Du träumst von einer Karriere in der Hisbollah? Vielleicht doch besser, du bleibst in der Schweiz. Du machst mir Angst.»

      00:04: «Ma chère Selma. Meine Mutter wartet auf meine Rückkehr. Ich heirate die Frau, die sie für mich gefunden hat. Unsere Familien haben sich gegenseitig besucht und geeinigt. Ich bin der älteste Sohn. Ich muss es tun.»

      00:15: «Ok. Auch gut.»

      00:18: «Ma chère Selma. Geh nach Israel und dort zur Klagemauer und wirf für mich einen Blick auf die Al Akkba-Moschee. Tust du das?»

      00:30: «Selma. Ich baue im Libanon ein Haus. Ohne fliessendes Wasser und ohne Strom. Das Leben am Hang des Bergs Hermon ist hart. Aber ich kaufe Mandelbäume und Schafe. Und einen Traktor. Und am Feuer ist Platz für dich. Ich warte auf dich.»

      Tohuwabohu, dieses bockige Wort, das den verstörenden Lärm in der leeren Wüste bezeichnet. Den niemand je gehört hat. Und der das Bewusstsein und die Geisteskräfte vernichtet. Wie die Engel es tun, wenn man sie aufsucht, bevor die Zeit reif ist. Komm, Engel … Steig herab … Kämpf mit mir … Schlagen wir uns am Ufer des ewigen Flusses Sambatjon die Seelen wund …

      02:00: «Sami! Mashgara liegt NICHT am Fuss des Bergs Hermon.»

      02:05: «Selma! Wann kommst du? Ich warte auf dich.»

      02:16: «Vergiss nicht, mir weiterhin so schöne Briefe zu schreiben. Je t’aime. Sami.»

       12. August 2010. Lemberg

      «Ich würde mich als gläubigen Menschen bezeichnen. In die Synagoge konnte ich jedoch nicht gehen. Ich war einmal zu einer Bar Mitzwa eingeladen. Frauen und Kinder sassen oben auf dem Balkon, alle kannten sich, sie waren eine grosse Familie. Mich starrten sie an und senkten die Stimmen, damit ich sie nicht verstehen konnte: keine freundliche Atmosphäre.

      Ich hätte mich mit dem jüdischen Gottesdienst vertraut machen müssen. Wir hatten den Bezug zu den Ritualen und ihren Bedeutungen verloren.» Notat von Pauline Einzig

      In der Synagoge. Die Besucher des Kabbalat Schabbat sind zum grössten Teil aus Israel. Die Männer diskutieren, ob sie Jiddisch oder Hebräisch sprechen sollen, sie tragen Jeans, Hemd und Kippa, einige Kaftan, Tallit, Pelzhut und Schläfenlocken. Die Frauen finden sich auf der Empore, die Bänke stehen ungeordnet, zerbrochene Stühle liegen herum, sie lesen in Büchern, schwätzen, heben den Vorhang, der aus wunderschöner Spitze gemacht ist, rufen hinunter und debattieren. Der Rabbi Mordechai Kaplan, ein kleiner, dicker Mann, wischt sich mit einem grossen Tuch den schweissnassen Schädel, weist mit dem Finger auf einen älteren Mann, der zu singen beginnt, zieht sich den Tallit über den Kopf, der Gesang hebt ab, liturgische Rezitation, arabisch-pentatonische Klänge, Klezmer und Balkanbeat, die Männer klatschen und klopfen auf die Bänke, einer kommt mit der Thorarolle herein, ein anderer öffnet den Schrank, sie verstauen die Thorarolle im Schrank, stopfen sie unbeholfen hinein, wie man es mit widerständiger Wäsche tut, der Rabbi, immer noch den Tallit über dem Kopf, rezitiert, zu seinen Füssen liegt sein kleiner Sohn und betrachtet die singenden Männer von unten, die Frauen deuten Tanzschritte an, sie sind – ihre Köpfe und Oberkörper vor dem Vorhang, ihre Hinterteile und Beine hinter dem Vorhang – in zwei Teile geschnitten, der Stoff hebt und senkt oder bauscht sich, wenn eine dagegen atmet oder den Kopf zu weit vorstreckt.

      Zwei lange Tische. Fische, Salate, Kuchen, Wasser, Cola und Saft. Der Kiddusch wird gesungen, Saft getrunken, die Challa wird gebrochen und mit Salz bestreut.

      Lea, die Frau des Rabbi Mordechai Kaplan – trotz der bleiernen Hitze mit hochgeschlossener Bluse, Jacke, Strümpfen und Perücke bekleidet –, will mich zu ihren Töchtern setzen, doch plötzlich Rufe: «Switzerland! Switzerland!»

      Lea schubst mich zu einem Mann, der aus Zürich kommt. Weisse Haut, schwarzes Haar, rote Lippen, ein männliches Schneewittchen. Gesang ertönt, die schwarzen und die weissen Engel, die Namen sorgfältig ausgesprochen, für eine gute Woche, Leas Töchter tragen Hühnersuppe mit Nudeln auf.

      Schneewittchen trinkt Obstsaft und fragt: «Sind Sie jüdisch?»

      Selma: «Vielleicht. Zur Hälfte.»

      Schneewittchen: «Mutter oder Vater?»

      Selma: «Mutter.»

      Schneewittchen: «Ja? Und bei der Mutter die Grossmutter oder der Grossvater?»

      Selma: «Beide.»

      Schneewittchen: «Für mich sind Sie jüdisch. Keine Frage.»

      Selma: «Wenn überhaupt, bin ich halbjüdisch. Und nicht nur das. Ich komme aus einer Familie assimilierter Konvertiten. Ich bin Hybrid. Ich bin unbestimmt.»

      Schneewittchen: «Kennen Sie die Halacha?»

      Selma: «Ja.»

      Schneewittchen: «Die Halacha ist das Gesetz.»

      Selma: «Mag sein. Meine Familie aber ist die Realität.»

      Der Rabbi klettert auf eine Bühne, erzählt eine Geschichte, Ivrit, Jiddisch und Englisch, die Worte brechen mit Gewalt aus dem rundlichen Mann heraus, die Gäste gehen herum, reden oder nutzen die Pausen, wenn der Rabbi Atem holt, um zu klatschen, einen neuen Gesang anzustimmen, doch er hebt die Hände: «Warten Sie! Warten Sie! Ich bin noch nicht fertig!» Und ich fühle mich zugehörig, Teil einer Gemeinschaft, Paulines Gemeinschaft – Paulines Vermächtnis, das ich aus den Tiefen der Geschichte, des Schweigens und der Kiste heraufhole. Und finde das Glück in Marielouises Herzen … Mitten in dieser Stadt, die sich Valparaiso nennt … Paradies … Offenes