Frau Bartsch. Julian Dillier

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Название Frau Bartsch
Автор произведения Julian Dillier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907543



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der Reihe nach standen diese Konfektbehälter im Gestell, von den billigen bis zu den teuren Sorten. Ich bekam meistens von der billigsten Sorte. Aber ich liebte dieses Konfekt. Es waren kleine Waffeln, oft auch Petit Beurre und Mäiländerli. Damals kosteten hundert Gramm dieser Sorte fünfundzwanzig Rappen, die teuersten Biskuits aber bereits gegen einen Franken. Den Sack voller Biskuits trug ich nach Hause und gab ihn der Mutter, die das Konfekt uns Geschwistern verteilte. So kamen wir jeden Tag zu unserer Süssigkeit, was unsere Tante Jakobee erzieherisch nicht gut fand. Jeden Tag eine Süssigkeit versaure das ganze Leben, pflegte sie zu sagen und riet der Mutter, die vielen Biskuits für den Sonntag aufzubewahren. Ja, hie und da hatten wir Buben schon das Gefühl, in unserer Stube habe nicht die Mutter, sondern die Tante Jakobee das Sagen. In ihrer Familie war sie die Älteste und meine Mutter die Jüngste, die als Nesthäkchen besonderer Aufsicht bedurfte.

      Residenz

      Ein Dorfladen hat seine ganz bestimmten Stammgäste. Bei Frau Bartsch waren das vorwiegend Frauen. Eine Kundin ganz besonderer Prägung war die Kanzlistin Anni Seiler. Sie verkörperte für mich das Rathaus. Sie war beredt, wusste über alles Bescheid und versorgte Frau Bartsch mit Nachrichten aus dem Rathaus. Sie hielt sehr viel auf das Amtsgeheimnis. Von geheimen Dingen vernahm Frau Bartsch nichts. Das hätte sie auch nicht interessiert. Hingegen waren persönliche Eigenarten der Herren im Rathaus gefragt; kleine Vorkommnisse, die diese Herren etwas menschlicher machten. Anni Seiler war damals das einzige Frauenzimmer im Rathaus. Für Frau Bartsch war sie weniger eine Respektsperson als vielmehr eine Repräsentantin sarnerischer Vornehmheit. Anni stammte aus sehr gutem Haus. Ihr Vater war Gerichtspräsident, ihre Familie war eine Hoteliersfamilie und betrieb die Pension Seiler, in der früher deutsche Familien aus Adelskreisen logiert hatten. Dieser Hauch adliger Vornehmheit duftete auch in den hübschen Kleidern der Anni Seiler. Sie war lebhaft interessiert an der Politik. Deshalb haben mich die Gespräche zwischen ihr und Frau Bartsch schon als Bub stets fasziniert.

      Anni Seiler ging nie zur Kirche. Darum haftete ihr eine Art Verruchtheit an, eine Mischung von Anderssein und Widerstand. Dasselbe bewunderte ich und ängstigte mich auch bei zwei andern Dorfbewohnern, von denen man hinter vorgehaltener Hand flüsterte, man sähe sie nie in der Kirche. Es waren das der Kupferschmied-Päuli in der Rathausgasse und der Tabakhändler Portmann am Dorfplatz. Mir fiel auf, dass alle drei in unmittelbarer Nähe des Rathauses wohnten oder arbeiteten. Anni auf der Kanzlei des Rathauses, der Kupferschmied-Päuli betrieb an der Rathausgasse eine Kupferschmiede, und der Portmann verkaufte Tabak am Dorfplatz. Keiner von ihnen ging in die Kirche. Und keiner hatte dafür eine Entschuldigung. Im Gegenteil, sie prahlten damit. Portmann nannte das Mut, anders zu sein als alle andern, der Kupferschmied-Päuli polterte, je näher man bei einem Rathaus wohne, umso weniger glaube man. Anni witzelte einmal im Laden, der Kirchgang sei für viele Sarner nur ein Umweg in die Dorfbeiz.

      Als Bub war ich stolz auf unsere Residenz. Zwar erklärte uns Lehrer Gisler, Sarnen sei keine Stadt, nur ein Flecken. Man rede auch vom Flecken Altdorf und vom Flecken Stans. Eine Stadt sei ein Ort nur, wenn er ein festes Stadtgefüge habe, mit Mauern, Türmen und Häuserreihen. Früher hätten Fürsten und Könige Stadt- und Marktrechte verliehen. Die Urkantone seien immer reichsunmittelbar regiert worden. Und so sei ein Flecken ganz anders entstanden.

      Mit seinem Geschichtsunterricht wusste Lehrer Gisler uns einen richtigen Sarner Stolz zu geben. Mir war Sarnen ganz besonders lieb, weil es mir vorkam wie eine Frau, die bei jeder Jahreszeit andere Kleider und andere Accessoires trägt und sich möglichst vielfältig gibt. Wintertage im Dorf und an den Dorfrändern, auf dem Landenberg, am Eywald, im Ried im Unterdorf, an der Melchaa muteten immer weihnächtlich an. Es duftete aus allen Häusern nach Backwerk, die Fuhrwerke fuhren wie auf leisen Sohlen über das Dorfpflaster, die Wälder rings um das Dorf waren silbrig und verschlafen, und der Schnee verwischte die harten Konturen der Dächer. In winterlichen Tagen wirkte alles so geheimnisvoll. Wir fieberten auf den Sankt Nikolaus, auf Weihnachten, auf die Ferientage.

      Jede Jahreszeit hatte ihre ganz besonderen Zeichen, die es nur in dieser Jahreszeit gab. Niemandem wäre es eingefallen, Schänkäli und Chilbichrapfä ausserhalb der Chilbizeit zu backen oder zu verkaufen. Und wenn der Frühling kam, begann das Politisieren in den Häusern, denn es ging auf die Landsgemeinde zu. Und so ein Vorabend vor der Landsgemeinde! Da schien es, Sarnen putze sich heraus, erwarte Besuch und gebe sich besonders städtisch. Ein Jahr ohne einen Landsgemeindesonntag wäre mir vorgekommen wie ein Jahr ohne Ostern. In der Woche davor durften wir Buben bei Frau Christen im Heimatmuseum die Kostüme holen für die Hälmiblääser. Die zogen sich am Landsgemeindesonntag bei uns in der Landweibel-Wohnung um. Frau Christen hütete diese Kleider sorgfältig und packte sie behutsam wie Kleinode in einen grossen Wäschekorb. Sie kam uns überhaupt vor wie ein Museumsstück. Sie gehörte zum Museum wie die Kanonen im Parterre, wie Fronleichnam und die Sarner Aa zum Sommer.

      Die Aa war uns ein Spielgefährte. Und zur Sarner Aa gehörte auch der Schwiibogen, der das Dorf mit Kirchhofen verband. Da hockten wir auf dem niederen Brückenmäuerchen und staunten in die Aa hinunter, wo sich die Fischwelt tummelte, und mir war, ich segle dabei wie auf einer Wolke über dem Sarnertal. Der Schwiibogen bot uns noch eine andere Abwechslung: dann, wenn der «Kronen»-Leo auf einer schwankenden Leiter zur Brückenlampe hochkletterte und diese mit einem schwarzen Tuch versah, damit er mit seinen Fischerkollegen dem Laichfang frönen konnte. Dem «Kronen»-Leo waren Fischerei, Jagd und das Motorrad viel wichtiger als seine «Krone». Die überliess er seinen Serviertöchtern. Bei seinen Tätigkeiten hatte er selten Glück. Einige Male verunfallte er schwer, weshalb er sein Gehör beinahe ganz verlor. Darum war er gewohnt, im Gespräch eine Hand wie ein Hörrohr an das rechte Ohr zu halten. Mit der anderen Hand stützte er den Ellenbogen, und diese Haltung war so ausgeprägt, dass man sich den «Kronen»-Leo nie anders hätte vorstellen können. Und weil er bei solchen Gesprächen nicht immer alles verstand, pflichtete er seinem Gesprächspartner mit den stets gleichen Worten bei: «Mäinäid scheen, mäinäid scheen…»

      Neben der Aa war es der Studententeich, der uns an den See lockte. Droben im Studententeich bastelten wir uns ein Floss, liessen es dann die Sarner Aa hinuntergleiten, banden es bei der Rathausstiege an, und von diesem Tage an benutzten wir die Aa als unseren Fluss- und Wasserweg in die dörfliche Badeanstalt. Zum Sommer gehörte ebenso unser Bademeister Niklaus Heimann, gehörten das Schilfufer und das Gequake der Frösche, aber auch die stillen Sommerabende am See.

      Wenn dann der Herbst die Blätter in der Allee beim Frauenkloster färbte, wenn es so wundersam neblig wurde in den Gassen und wir durch das gefallene Laub schlurfen konnten, wenn Doktor Diethelm die Strassenarbeiter die Ruhebänklein des Verkehrs- und Verschönerungsvereins versorgen liess, witterten wir Buben bereits unser Bubenschiessen, und dann war der Kaiser Louis der wichtigste Mann im Dorf – der Kaiser Louis und die Ehrenmänner beim Ehrenmänner-Stich. Sarnen wurde mir zum Dorf der Jahreszeiten. Hier erlebte ich sie wundersam wie einen reichen, bunten Bilderbogen.

      Die Jahreszeiten spiegelten sich auch beim Laden der Frau Bartsch. Im Herbst war sie öfters mit dem Besen vor der Haustüre, denn der herbstliche Wind wehte ihr das Laub von den Lindenbäumen bei der Dorfkapelle aufs Trottoir, auch gab ihr das Laub aus Hurnis Garten Arbeit. Hurnis Garten, eine kleine Wildnis mitten im Dorf, mutete an wie eine andere, sorglose Welt. Als Kind glaubte ich immer, der liebe Gott habe in diesem altertümlichen Garten seine ersten Versuche zur Erschaffung der Welt gemacht.

      Es gab aber auch eine Jahreszeit, in der ich meinte, Frau Bartsch wolle ihren ganzen Laden umstellen. Nach den anstrengenden Weihnachtstagen standen leere Kisten herum, da türmte sich die Holzwolle im Hausgang, da leerten sich die Gestelle, da lag das festliche Packpapier herum, und da bekam ihre grosse Ordnungsliebe den Anstoss, alles zu verändern, neu aufzustellen. Sie liess mich auf die Bockleiter klettern, diesen und jenen Artikel herunterholen, umstellen, und selbstverständlich wurden dabei die verschiedenen Gestelle fein säuberlich abgestaubt. Der Staub war für sie das Hässlichste im Laden.

      Trinklä

      Zum Sankt Nikolaus gab es bei Frau Bartsch einen bestimmten Gabentisch. Die Tage um den sechsten Dezember waren für uns Buben fast so verzaubert wie Weihnachten. Jedenfalls beschäftigte uns das Sankt-Nikolausfest viel