Carl Schmitts Gegenrevolution. Reinhard Mehring

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Название Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор произведения Reinhard Mehring
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783863935771



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Mitarbeitern“ zählte. Er reklamiert jedenfalls einen „ganz anderen politischen Standpunkt“ für sich, und so merkwürdig das im Kontext sonstiger Bekenntnisse klingt, so strategisch der Brief auch geschrieben ist, gibt es hermeneutisch doch schwerlich sichere Gründe, Schmitts Erklärung nicht ernst zu nehmen. Will man seinen damaligen „Standpunkt“ genauer fassen, so ist neben der Politischen Romantik vor allem Die Diktatur zu berücksichtigen. Sie ging im Herbst 1920 in den Druck.

       8. Die Jakobiner nach 1918

      Wie zitiert, kam Schmitt das Interesse an der Diktatur als dienstlicher Auftrag entgegen. 1916 publizierte er eine erste längere „staatsrechtliche Studie“ zur Unterscheidung von Diktatur und Belagerungszustand, die sich auf den Bedeutungswandel in der französischen Revolution und Verfassungsgeschichte konzentrierte. Schmitts erste große rechts- und begriffsgeschichtliche Monographie führt 1921 dann – laut Untertitel – von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Nur der kritische Schluss mit dem „proletarischen Klassenkampf“ soll hier interessieren.

      Auf den letzten Seiten erörtert Schmitt erstmals die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 im Verhältnis zur „Diktatur des Proletariats“. Dabei konstatiert er einen Begriffswandel vom älteren Belagerungszustand zur Konzeption der Weimarer Verfassung: 1848 war bereits „eine Reihe von umschriebenen Befugnissen“ an die Stelle einer unbestimmten Ermächtigung zur nach Lage der Sache erforderlichen Aktion getreten. Der Reichspräsident erhielt dagegen „die Ermächtigung zu einer rechtlich nicht begrenzten Aktion“ (D 201): eine „grenzenlose Ermächtigung“, „grenzenlose Delegation“ und „Übertragung der Souveränität“. Nur die Selbstbeschränkung auf ein Maßnahmehandeln unterschied seine Praxis von der souveränen Diktatur. „Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Pressfreiheit explicite erteilt.“ (D 203)

      Am Beispiel des Art. 48 entdeckt Schmitt 1921 erstmals „Widersprüche“ in der Weimarer Verfassung: Weil die existentielle Frage der Souveränität nicht klar geregelt ist, kann der Reichspräsident sein Handeln über die „kommissarische Diktatur“ hinausgehend in Richtung auf eine „souveräne Diktatur“ entwickeln. Schmitt gibt ein soziologisches Argument für das mangelnde Problembewusstsein und Schweigen des Verfassungstextes zu diesem entscheidenden Fall: „Beim Übergang vom fürstlichen Absolutismus wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß nunmehr die solidarische Einheit des Staates endgültig gesichert sei.“ (D 203) Schmitts Monographie schließt mit dem Befund, dass diese Voraussetzung einer staatlichen Einheit und Einheitsbildung, die die nationalliberale Bewegung des 19. Jahrhunderts beherrschte, mit dem „proletarischen Klassenkampf und der Theorie der „Diktatur des Proletariats“ aktuell negiert sei. Schmitt schreibt:

      „In den Jahren 1832 und 1848, die für die Entwicklung des Belagerungszustands zu einer rechtlichen Institution das wichtigste Datum sind, war gleichzeitig schon die Frage gegeben, ob die politische Organisation des Proletariats und ihre Gegenwirkung nicht einen ganz neuen politischen Zustand, und damit neue staatsrechtliche Begriffe schafft.“ (D 204)

      Die Diktatur schließt also mit einer Verhältnisbestimmung der Diktatur des Reichspräsidenten und des Proletariats und kündigt weiterführende Publikationen an; der Vortrag von 1924 über Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung ist dann als „Anhang“ seit 1927 allen folgenden Auflagen beigefügt. Der Text von 1921 schließt folgendermaßen:

      „Wie der Begriff [der souveränen Diktatur] sich im systematischen Zusammenhang mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts und im politischen Zusammenhang mit den Erfahrungen des Weltkrieges entwickelt hat, muss einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben. Es darf jedoch hier schon bemerkt werden, dass, von einer allgemeinen Staatslehre aus betrachtet, die Diktatur des mit dem Volk identifizierten Proletariats als Übergang zu einem ökonomischen Zustand, in welchem der Staat ‚abstirbt‘, den Begriff einer souveränen Diktatur voraussetzt, wie er der Theorie und der Praxis des Nationalkonvents zugrunde liegt. Auch für die Staatstheorien dieses Übergangs zur Staatlosigkeit gilt das, was Engels in einer Ansprache an den Bund der Kommunisten im März 1850 für seine Praxis verlangte: es ist dasselbe ‚wie in Frankreich 1793‘.“ (D 205)

      In seiner gewichtigen und schwierigen „Vorbemerkung“ von 1921 geht Schmitt näher auf die „sozialistische Literatur“ zur Theorie des Proletariats ein und betont sein grundlegendes rechtsphilosophisches Interesse. Er erwähnt im sozialistischen Diskurs und Revisionismusstreit vom „Sommer 1920“ Antworten von „Lenin, Trotzki und Radek“ auf Kautsky, die die Diktatur als Mittel zum revolutionären Zweck auffassten und den Staat als bloßes Mittel der Revolution instrumentalisierten. Schmitt schreibt:

      „Wo nun, wie in der kommunistischen Literatur, nicht nur die bekämpfte politische Ordnung, sondern auch die erstrebte eigene politische Herrschaft Diktatur heißt, tritt eine weitere Veränderung im Wesen des Begriffs ein. Der eigene Staat heißt in seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu bewirkenden Übergangs zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine Rechtfertigung aber in einer Norm liegt, die nicht mehr bloß politisch oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, sondern geschichtsphilosophisch. Dadurch ist die Diktatur – weil sie als Ausnahme in funktioneller Abhängigkeit von dem bleibt, was sie negiert – ebenfalls eine geschichtsphilosophische Kategorie geworden.“ (D XV)

      Schmitt spricht für die „Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur“ auch von einem „Übergang von der früheren ‚Reformations-‘ zur Revolutions-Diktatur“ (D XVIII). Gelegentlich meinte er später, die Weimar Verfassung sei 1919 bereits „posthum“, eigentlich von 1848 gewesen. Wenn er den zeitgenössischen Bolschewismus 1921 mit den Jakobinern von 1793 parallelisiert, spricht er ein geschichtsphilosophisches Urteil: Schmitt zeigt zwar, dass die fundamentale Voraussetzung der „Einheit“ des Staates, auf der die Diktatur des Reichspräsidenten basierte, von der Theorie des proletarischen Klassenkampfes negiert wurde; er scheint die proletarische Revolution aber 1921 nicht mehr wirklich zu fürchten. In der Vorbemerkung beruft er sich dagegen zustimmend auf Bruno Bauer und Ostrogorski, unausgesprochen wohl auch auf Max Weber, wenn er konstatiert:

      „Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine Aufhebung der Demokratie auf demokratischer Grundlage für die Diktatur charakteristisch, so daß zwischen Diktatur und Caesarismus meistens kein Unterschied mehr besteht und eine wesentliche Bestimmung, nämlich das, was […] als der kommissarische Charakter der Diktatur entwickelt ist, entfällt.“ (D XIII)

       9. Gegenrevolutionäre Bejahung der „konstitutionellen Demokratie“

      Damit sind Schmitts früheste Stellungnahmen zum Umbruch von 1918/19 einigermaßen geklärt. Es ließen sich spätere anschließen. Ein kleiner Artikel Reichspräsident und Weimarer Verfassung liest sich im März 1925 wie eine zusammenfassende Warnung vor der „großen Machtfülle“ des Reichspräsidenten: „Man kann sagen, daß keine Verfassung der Erde einen Staatsstreich so leicht legalisiert, wie die Weimarer Verfassung.“ (SGN 25) Ignorieren wir die späteren Schriften und beschränken uns auf die ersten Antworten der Monographien von 1919 und 1921, so ist abschließend zu sagen: Von einer umfassenden verfassungspolitischen Antwort auf den Systemumbruch kann damals noch keine Rede sein. Schmitt schweigt von Versailles und Genf; zur Weimarer Verfassung äußert er sich aber bereits dezidiert, auf die Souveränitätsfrage von Diktatur und Ausnahmezustand bezogen. Als Jurist meidet er direkte Stellungnahmen und versteckt sie „esoterisch“ hinter indirekten Spiegelungen. Deshalb sind Exkurse zu David Friedrich Strauss und Wallenstein68 innerhalb der beiden Monographien auch eine konfessionelle Botschaft: Schmitt grenzt sich von Strauss’ romantisierender Auffassung der Religionspolitik des antichristlichen Kaisers Julian ab und betrachtet Wallenstein als kommissarischen Diktator und „Aktionskommissar“ im Dienste kaiserlicher Reichseinungspolitik: „Allerdings verschafften die militärischen Erfolge Wallensteins dem Kaiser eine solche Macht, dass es einen Augenblick scheinen konnte, als bestünde die Möglichkeit, das Deutsche Reich zu einem nationalen Einheitsstaat unter einem absoluten Fürsten zu machen.“ (D 86) Kontrafaktisch deutet