Aliens & Anorexie. Chris Kraus

Читать онлайн.
Название Aliens & Anorexie
Автор произведения Chris Kraus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783751800051



Скачать книгу

Tristan Tzara Nonsens-Gedichte aus Glossolalien. Sie versuchten, wie es in Balls Dada-Manifest heißt, »moeglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen […], an der der Schmutz klebt wie von Maklerhaenden«. In New York in den frühen Sechzigern schufen John Cage und die Mitglieder der Fluxus-Bewegung vollkommen willkürliche Kompositionen aus Klängen und Gesten. Im Londoner Empress Hotel schufen Brion Gysin, William Burroughs und Ian Sommerville »Cut up«-Texte und -Filme, indem sie ihre Intuition mit aller Gewalt öffneten wie Tulpenknollen, um die versteckten Botschaften in all dem zu offenbaren, was wir hören und sehen.

      Diese Männer waren Krokodile in Clubsesseln, Dirigenten kontrollierter Chaos-Experimente. Im Interesse einer höheren Wissenschaft waren sie darauf vorbereiten, sich Stücke ihrer eigenen nichtporösen Haut auszureißen. Mädchen hingegen sind viel weniger reptilisch …

      Katia Perry trampte gern die Nordinsel von Neuseeland zwischen Wellington und Auckland hinauf und hinunter. Per Anhalter zu fahren war ein Glücksspiel. Weil Katia damals noch Englisch studierte und ihr die kritische Intelligenz fehlte, nur irgendeinen Unterschied zwischen sich und ihrem Studienfach zu entdecken, kam ihr das Trampen wie ein pikarisches Abenteuer vor.

      Tom Jones wurde zum Urtext. Jedes Mal, wenn Katia mitgenommen wurde, begann ein neues degressives Kapitel, das mit den Worten »In welchem …« begann. Highway 1 von Wellington nach Auckland war wie eine Zauberkiste der Postmoderne. Fast 900 Kilometer lang handelte es sich um eine zweispurige Straße, in deren Verlauf sich die Landschaft vom Regenwald hin zur Wüste wandelte und zu allem dazwischen.

      In Otaki, wo die Hügellandschaft braunschweigisch grün war, stellte Katie sich gerne vor, dass der Pick-up-Truck, in dem sie mitgenommen wurde, eine Postkutsche war. Nördlich von Palmerston, als das Heidekraut sich zu einem Wald sammelte, wanderte Katia durch die nördlichen Provinzen Japans im 17. Jahrhundert. Sie war der Dichter Bashō auf einer Pilgerreise. In Taihape verengten sich die Hügel voller Schafe zu gekrümmten Felsen, die auf den Himmel zeigten wie flämische Felswände in einem mittelalterlichen Gemälde. Auf dieser Reise war alles möglich, und Katias Ambition bestand darin, ihre Lebenszeit darauf zu verwenden, all das zu lernen, was es zu lernen gab.

      Während sie auf diese Weise durch Kontinente und Jahrhunderte reiste, hielt Katia gerne nach Zeichen und Botschaften Ausschau. Die Tatsache, dass sie trampte, bedeutete, dass sie diese Botschaften von Menschen erhielt, die sie nicht kannte. Und hatte ihr Lieblingsdichter James K. Baxter nicht dazu aufgefordert, die eigene Haustür für Fremde offen zu halten, weil jeder Fremde Christus sein könnte?

      Eines Sonntags wurde Katia von Wellington nach Silverstream mitgenommen. Die nächste Fahrt brachte sie 80 Kilometer weiter bis zu einer Abfahrt nördlich von Dannevirke. Die Straße war leer und so ging sie mehrere Kilometer zu Fuß. Es handelte sich um eine Übergangsgegend, in der das landwirtschaftlich genutzte Land ganz allmählich den Bergen wich. Die Hügel waren zerklüftet und von schlammigen, von Schafen ausgetretenen Kämmen zerfressen. Der Highway führte zwischen den Hügelspitzen hindurch und durch ein Tal. Es war Frühling: kalt und feucht, und Wasser tropfte die Felsen hinunter und sprang über die Straße.

      Katia hatte gehofft, noch vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Taupo zu kommen, einem Seeort mit zwanzig billigen Motels, doch gegen halb vier schien dieses Vorhaben bereits zweifelhaft. Als also die drei Betrunkenen in einem ramponierten Ford anhielten und ihr anboten, sie mitzunehmen, schien es ihr das Beste zu sein einzusteigen. Ein Landwirt und dessen Frau hatten sie von Silverstream aus mitgenommen; diese Fahrt bedeutet einen abrupten Szenenwechsel in ein anderes soziales Reich. Wie lautete noch jene Zeile, an die Katia sich erinnerte? Sei bereit für den Fremden, denn jeder Fremde könnte Christus sein.

      Sie warf ihren Rucksack ins Auto und fragte sich, ob Bier ein Sakrament sei, als der Fahrer seinen Arm um sie legte. Was verstehest du unter dem Worte: Sakrament? Ich verstehe darunter ein äußerliches und sichtbares Zeichen einer innern und geistlichen Gnade, die uns verliehen wird. Es war romantisch: Vier Fremde, die in einem Wagen aus den Sechzigern den Highway hinunterrumpelten. Sie boten ihr etwas zu trinken an und dann ein paar Pillen, und sie nahm sie und lauschte ihren ländlichen Akzenten. Ihre Stimmen wurden mit dem schlechten Radioempfang vermengt, der kam und ging. Es gab ein berühmtes Gedicht über Schafe von Allen Curnow – die Schafe breiteten sich aus wie eine Pest über den Hügel – Katia lächelte. Die Sonne verabschiedete sich, während sie die holprige Straße entlangreisten.

      Die Pillen dehnten alles in die Länge. Katia fiel auf, dass sie den Highway verlassen haben mussten, weil sie nun eine nicht asphaltierte Straße hinunterfuhren. Niemand sprach. Ein flaches weißes Haus tauchte auf: das Quartier eines Schafscherers? Satellitenschüssel, mehrere Autos, und durch die offenen Türen und Fenster dröhnte Musik. Eine Party. Der Fahrer sagte: »Wir sind da«, und Katia folgte, als die Männer ausstiegen und hineingingen.

      Was ihr auffiel, waren die Möbel. Wie sie sich, obwohl sie gar nicht zueinander passten und schäbig waren, ganz leicht großmütterlich anfühlten. Drinnen befanden sich ein Paar und zwei weitere Männer, einige der Anwesenden unterhielten sich. Die Typen, die sie mitgenommen hatten, waren Gäste. Ein Fetter mit Bart in Jeans schien hier das Sagen zu haben. Irgendwann verzog sich das Paar.

      Katia wusste nicht, ob sie einen Trip fuhr, doch sie begann, sich den Typ mit Bart als Roland vorzustellen, jenen Banditenkönig in de Sades Justine. Sie sprang hin und her zwischen diesen Zeiten und Orten und war sich ihrer eigenen Präsenz in diesem Bild nicht ansatzweise bewusst. Deshalb sah sie keinerlei Gefahr und erkannte nicht einmal die Tatsache, dass sie ein Teenager war, der mit fünf betrunkenen Männern Trips schmeißt. Etwas später löste sich der Nachmittag in einen Nebel aus Möbeln und Boden und blauen Flecken auf. Doch Katia kroch hinaus, überlebte –

      Mein Freund Dan Asher kehrte 1978 nach New York City zurück. Er hatte eine Zeit lang in Paris gelebt, wo er Penner und Rockstars und Béjart-Ballerinen fotografierte, manchmal in der Wohnung irgendeines Freundes unterkam, manchmal an der Seine schlief. Ich kann mich nicht erinnern, wo wir uns kennengelernt hatten – vielleicht in einem Café, vielleicht am Zeitungskiosk Gem Spa. Das Wort »obdachlos« war noch nicht erfunden worden, doch wir hatten keinen Wohnort, und ich hielt ihn für ein Genie, das heißt, wir hassten viele von denselben Leuten, also bot ich ihm an, doch einfach bei mir unterzukommen. Dan Asher über die Kunstwelt: »Ich verbringe lieber Zeit mit Pennern, den Clochards, sie sind interessanter als die Wichser, die in der Kulturindustrie das Sagen haben!«

      Dan trug einen sackartigen Mantel und prügelte sich ständig mit irgendjemandem. Erst später definierte er seinen Zustand als »autistisch«, einen Zustand, über den er seitdem mit großer Präzision redet und schreibt. Ich hatte schlicht und einfach angenommen, dass er verrückt sei, dass auch ich verrückt sei, und dass wir uns deshalb so gut verstanden. Ich hatte mich dieser Gruppe von Leuten angeschlossen, die an Colleges und Unis wie Swarthmore, Harvard und Grinnell studiert hatten. Dan und ich waren Teil ihrer urbanen Übergangslandschaft, einer Halbwelt, der sie irgendwann entwachsen würden. Sie waren bereits in ihren späten Zwanzigern und führten gequälte Gespräche über ihre Zukunft. Sie waren lächerlich, genau wie die Arschlöcher in Zeit der Reife, diesem Buch von Jean-Paul Sartre. Es war offenkundig, dass es keine Zukunft gab. Punk kam uns gerade gelegen.

      Dan machte Fotos für ein paar Leute von irgendeinem Magazin, das er hasste. Ich trat in einem Theaterstück auf. Der Regisseur sah mich oft an und sagte: »Ich will, dass du verletzlicher bist«, was natürlich ein totaler Witz war. Ich hatte kein Geld und keinerlei Aussicht, irgendwann welches zu verdienen. Ich konnte meine Miete nur zahlen, wenn ich irgendwem im Hinterzimmer einer Obenohne-Bar einen blies. Der Regisseur hingegen bekam ein Taschengeld von seinen Eltern und hatte gerade sein Studium bei Grinnell beendet. Dan störte sich nicht daran, dass ich die X-Ray-Spex-Platte Oh Bondage, up yours! ungefähr dreißig Mal am Tag auflegte.

      Mein Mitbewohner Tom, der an der New School Philosophie studierte, schlief im Schlafzimmer, ich schlief in der Abstellkammer, Dan schlief auf der Couch. Wir standen gegen 11 auf, nachdem Tom zur Uni gegangen war, und verbrachten Stunden damit, uns über einfach alle, die wir kannten, ins Fäustchen zu lachen. Die Wohnung war vollkommen aboriginal. Sie war unsere Höhle. Manchmal wurden unsere Gespräche so intensiv, dass ich aufstand und ein Set Poster-Farben kaufte, um unsere Gedanken als Aphorismen