Название | Der blaue Vorhang |
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Автор произведения | Ingo Rose |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102661 |
Die Ankunft ihrer Mutter in Wien war eine große Erleichterung für Isadora gewesen. Das familiäre Nest war ihr immer noch wichtig; sie brauchte ihre Duncans um sich herum als Anreger, Fürsprecher, Trostspender und Hilfskräfte. Und nachdem sich die Ersatzfamilie rund um Loïe Fuller in all diesen Hinsichten als untauglich erwiesen hatte, war Isadora umso erfreuter, die Mutter wieder in die Arme zu schließen. Es war schwer genug für sie gewesen, Fehlschläge wie in Berlin, wo sie im Schatten Fullers nur Achtungserfolge erzielen konnte, allein wegzustecken. Aber ein Triumph, so rauschend wie der in Budapest, musste erst recht geteilt werden! Dass Mrs Duncan so eilends gekommen war, rechnete ihr die Tochter hoch an. Doch nun … Nun, nach der Begegnung mit Oscar Beregi, überlegte sie hin und her, wie sie es anstellen könnte, sich von der Mutter loszueisen. Sie streifte wieder einmal allein durch die Straßen der Stadt und über die Brücken, sie schaute über die Donau hin, beobachtete die Boote und warf Steinchen ins Wasser. ›Als Erstes‹, dachte sie, ›werde ich mit Mutter in die Vorstellung von Romeo und Julia im Nationaltheater gehen. Auch wenn ich kein Wort verstehe, ich muss diesen Jungen auf der Bühne sehen.‹ Was hatte er zu ihr gesagt? »Sie haben ein Gesicht wie eine Blume.« Sein Englisch war unvollkommen, er mischte Deutsch hinein, aber es reichte für die Verständigung. Sie hatten eine ganze Weile miteinander geredet. War sie ihm zu oft ins Wort gefallen? Mit ihren Lieblingsthemen, dem Solarplexus, der antiken Tragödie und den deutschen Philosophen? Nein, er hatte gelächelt, während sie sprach und ihr anvertraut, dass er für die Rolle des Marc Anton in Shakespeares Julius Cäsar vorgesehen sei. Für eine Aufführung von Romeo und Julia wolle er beste Plätze für sie und ihre Mutter buchen und an der Theaterkasse hinterlegen lassen. ›Was soll ich anziehen?‹, dachte sie jetzt auf der Brücke, ›das seidene Reformkleid, dazu Blumen im Haar, echte, ungarische Frühlingsblumen, wilde womöglich, gepflückt auf der Donauinsel … Diesmal‹, sagte sie zu sich, ›ist es Liebe‹. Dessen war sie sich sicher. Nur wie sie mit Beregi irgendwohin, wo niemand war, verschwinden könnte, das wusste sie noch immer nicht. ›Er ist ja auch noch da‹, seufzte sie, ›er wird schon einen Weg finden, er kennt sich hier aus.‹
Und so kam es. Nach der Aufführung von Shakespeares Tragödie, in der Beregi kühn seine glühendsten Liebesworte in Richtung Proszeniumsloge sprach, wo, wie er wusste, die schöne Tänzerin saß, lud Beregi Isadora und ihre Mutter in seine Kutsche ein und fuhr sie zum Hotel. Dort soupierte er mit beiden Damen und etlichen weiteren Theaternarren, und es ergab sich, o Wunder, dass Mrs Duncan sich um Mitternacht in ihre Suite zurückzog und auch die anderen Bewunderer sich zerstreuten. Das Paar blieb allein. Sie plauderten, machten Pausen und sahen einander an. Die Pausen wurden länger, und sie lächelten nicht mehr, wenn sie sich in die Augen schauten. Da ergriff Beregi Isadoras Hand und sagte:
»Komm mit mir. Ich kenne einen Landgasthof, dort sind wir allein. An der Rezeption hier im Hotel hinterlegen wir ein Billett für deine Mutter. Komm.«
Isadora stand auf, ohne seine Hand loszulassen, und ging mit ihm hinaus. Sie stiegen in die Kutsche und begannen dort, sich zu küssen. Der Gasthof lag weit vor den Toren der Stadt, es war Zeit genug für viele Küsse.
Oscar Beregi hatte nichts dagegen, Isadoras erster Liebhaber zu sein, ja, er genoss die überraschende Rolle und spielte sie mit Inbrunst und Ausdauer. Isadora selbst hatte diese überfällige erste Nacht lange herbeigesehnt, aber auch gefürchtet. Sie ging in das Abenteuer hinein in dem Bewusstsein, jetzt etwas zu erleben, das ihrer Kunst einen ganz neuen Impuls geben könnte. Zugleich aber fürchtete sie, dass die Liebe sich als stärker erwiese als ihr Ehrgeiz und ihrer Laufbahn ein Ende machte. Also litt sie in den Armen ihres Geliebten, nicht nur, weil der sexuelle Akt ihr wehtat – »Ich schrie vor Schmerz« –, sondern auch, weil sie ahnte, dass da etwas auf sie wartete, das stärker wäre als die Genugtuung des Applauses im Blendlicht der Scheinwerfer. Sie wehrte dieses unbekannte Glück instinktiv ab, weil sie ja sie selbst bleiben wollte, Isadora Duncan, die Botschafterin einer neuen Tanzkunst. Zugleich aber war es ihr zuwider, unberührt und unwissend zu sein, und sie reckte sich nach der neuen Erfahrung mit all ihrer Kraft. Beregi versicherte ihr, dass der Schmerz vergehe und sie statt seiner ein Lustgefühl erleben werde »wie der Himmel auf Erden«. Er hatte nicht zu viel versprochen. Die beiden gaben einander Zeit und nahmen sich die Zeit, und Oscar Beregi wusste, was er seiner Blume schuldig war. Die kam nach und nach wieder zu sich. »Um Himmels willen, Oscar«, sagte sie, »ich hab heute Abend Vorstellung!« Er erwiderte: »Und ich auch!« Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Der Kutscher schlug auf die Gäule ein, um sie in den Galopp zu treiben. »Küss mich noch einmal«, sagte Oscar und bat sie, nach ihrem Auftritt auf ihn zu warten. Isadora tanzte die Iphigenie zur Musik von Christoph Willibald Gluck in einem Zustand der Benommenheit und der Selbstvergessenheit, aber ihr treues Publikum jubelte und klatschte wie sonst auch. ›Bin ich eine andere geworden?‹, befragte sie sich. ›Nein, ich bin ich selbst geblieben. Ich bin sogar noch mehr ich selbst.‹ Und mit ausgestreckten Armen trat Isadora an die Rampe und verbeugte sich tief.
Die Mutter war natürlich sehr durcheinander und voller Sorge um ihre Dorita, sie sah der Tochter ins Gesicht, zuckte die Achseln und dachte sich ihr Teil. Isadora verkroch sich in ihr Hotelzimmer, sie wollte allein sein und herausfinden, was sie fühlte. Das war nicht leicht. Sie las in Nietzsches Also sprach Zarathustra, aber anders als sonst sprach der Philosoph heute nicht zu ihr. Sie versuchte zu schlafen. Sie stand wieder auf, kleidete sich an und lief hinaus in die Nacht und an den Fluss. Es war unüblich zu jener Zeit, dass eine ehrbare Frau nachts allein umherlief, und so musste Isadora mehr als einmal vor besorgten oder zudringlichen Budapestern flüchten. Schließlich kehrte sie ins Hotel zurück – um dort zu erfahren, dass Elizabeth telegrafiert hatte: Sie würde am nächsten Tag eintreffen. Isadora machte vor Freude einen Sprung. Hier war ja doch ihr Herz zu Hause: in der Familie. Sie trank am nächsten Morgen Kaffee mit ihrer Mutter und sagte zu ihr:
»Ich glaube, ich habe das erste Mal in meinem Leben richtig viel Geld verdient.«
»So ist es, meine Kleine. Unser Konto ist gut gefüllt. Wenn das so weitergeht, können wir uns öfter mal eine Mietkutsche leisten.«
»Alexander hat eine Tournee für mich gebucht. Er will mich in lauter fashionablen Bädern herausbringen, Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Ich glaube, das ist eine gute Idee. Das Publikum dort ist nicht nur aufgeschlossen, es hat auch Geld.«
»Und Ansprüche«, sagte die Mutter.
Isadora fuhr auf. »Wie? Meinst du, ich hätte nachgelassen? Gestern Abend –«
»Du warst unkonzentriert, mein Kind. Du hast zwei Einsätze verpatzt. Kein Wunder nach drei Tagen ohne Proben. Die Leute haben es nicht gemerkt, sie lieben dich eben. Aber das geht nicht. Ich weiß, dieser Herr Beregi hat es dir angetan, und ich habe Verständnis. Aber du musst deine Verpflichtungen erfüllen. Deine Kunst darf nicht leiden.«
Isadora sah in ihre Tasse. »Mutter«, flüsterte sie, »steht die Liebe über der Kunst?«
Isadora in der Rolle der Priesterin in »Iphigenie auf Tauris« von Christoph Willibald Gluck, um 1903/04
»Die Kunst ist Liebe. Liebe zur Wahrheit. Zur Schönheit. Und sogar zum Publikum.«
»Das meine ich nicht. Ich meine die Liebe Julias zu Romeo. Oder Eurydikes zu Orpheus. Die Wollust. Die Seligkeit. Kann mich all das wegreißen von der Bühne, von meinem blauen Vorhang? Sag mir, muss ich das fürchten?«
Die arme Mrs Duncan wusste nicht, was sie antworten sollte. Natürlich gab es diese Gefahr. Aber es wäre für sie selbst und für die gesamte Familie eine Katastrophe, wenn Isadora ausfiele. »Du stehst doch erst am Anfang deines Weges«, sagte sie leise, »geh ihn weiter.« In Isadoras Memoiren finden sich diese Sätze: »Mein Leben kannte nur zwei Leitgedanken – die Liebe und die Kunst. Oft zerstörte eine Liebe die Kunst, und oft beendete der herrische Ruf der Kunst tragisch eine Liebe. Die beiden standen in einem ewigen Kampf miteinander.« Damals in Budapest hat der Kampf begonnen.