Название | Lachen, Weinen, Hoffnung schenken |
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Автор произведения | Oberrabbiner Prof. Paul Chaim Eisenberg |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783710605598 |
Den vielleicht ungewöhnlichsten Kindheits-Schabbes habe ich allerdings in Venedig erlebt: Wir waren dort mit der ganzen Familie auf Urlaub, und mir und meiner Schwester gefielen vor allem der Campanile, der hohe Turm am Markusplatz, wo der Doge früher wohnte und herrschte, ganz besonders gut. Unser Abreisetag fiel auf einen Samstag, aber natürlich verließen wir Venedig nicht während des Schabbats, sondern warteten auf den Einbruch der Dunkelheit, bevor wir uns im Zug auf den Heimweg machten.
Als wir am Stadtteil Mestre vorbeifuhren, sahen wir in der Finsternis plötzlich ein Feuer, das an der Spitze des Turmes einer Ölraffinerie brannte. „Papa, was ist das?“, fragte ich, und mein Vater antwortete in rabbinischer Genialität: „Der Doge macht Hawdole!“ So nennt man den Segen zu Ende des Schabbats, bei dem eine hohe Kerze angezündet wird.
ES WAREN NICHT NUR israelische Reisende, die damals, vor vielen Jahren, am Schabbat die Wiener Synagoge aufsuchten. Schon als mein Vater Oberrabbiner war, kamen oft auch amerikanische jüdische Touristen nach Wien, gingen nicht nur in die Staatsoper, zum Demel und zum Heurigen, sondern statteten auch dem Stadttempel am Schabbat ihren Besuch ab. Oft kam es vor, dass nach dem Gottesdienst, als wir schon bereit waren, nach Hause zu gehen, ein amerikanischer Jude zu meinem Vater ging und sagte: „Rabbi, I’m Mr. Grunwald (früher Grünwald) from Chicago, you know my Rabbi Friedlander?“
Mein Vater gab manchmal zu, dass er den Betreffenden nicht kannte, weil es in Amerika doch Tausende Rabbiner gibt. Manchmal aber sagte er auch höflich: „I think I met him once.“ Dann ging es oft so weiter: „Can I ask you a few questions?“ Mein Vater war zwar schon hungrig, weil er vor dem Gottesdienst nichts gegessen hatte, wollte aber nicht unhöflich sein und erklärte sich einverstanden. Dann fragte der Amerikaner in der Regel als Erstes: „How is the situation with antisemitism in Vienna?“
Und mein Vater antwortete diplomatisch ungefähr so: „Die SS marschiert nicht mehr in Wien, und die Regierungen sind uns meistens recht freundlich gesinnt. Aber es gibt natürlich auch ein paar Antisemiten – meistens die, die behaupten, keine zu sein.“
Das zumindest war es, was mein Vater eigentlich sagen wollte, aber weil er die Sache auch nicht unnötig in die Länge zu ziehen gedachte, sagte er stattdessen einfach: „Well, soso.“
Die nächsten Fragen waren einfacher zu beantworten:
„How many Jews live in Vienna?“
„About 7.000.“
„How many synagogues do you have?“
„About twelve.“
„Do you have a Jewish school?“
„Yes.“
„How many of the Jewish kids go there?“
„There are about 1.000 Jewish children in Vienna, and about half of them go to the Jewish school, the other half to public schools.“
Mein Vater sprach zwar nur wenig Englisch und machte das auch gerne zu einer Ausrede, um die Gespräche nicht zu lang werden zu lassen. Aber da die Fragen wirklich immer die gleichen waren, konnte er sie bald ebenso auswendig wie die korrekten englischen Antworten.
Irgendwann, nach dem zigsten Amerikaner, rief mich mein Vater, als ich schon ein junger Mann war, einmal zu einem dieser „Verhöre“ und sagte: „This is my son, Chaim. He is my interpreter and he will answer your questions.“ Damit hatte er die Amerikaner dauerhaft auf mich abgeladen, und ich habe fortan die gleichen Fragen mit dem gleichen Know-how beantwortet – und tue es im Prinzip noch heute.
Als ich meinen Vater fragte, warum sich die jüdischen amerikanischen Touristen eigentlich alle so sehr für unsere Gemeinde interessierten, erklärte er mir, wie es bei den Amerikanern daheim abläuft, wenn so ein Mr. Grunwald von seiner Reise in seine Gemeinde zurückkehrt. Dann geht er als Erstes zum Tempelvorstand und bietet dort an, einen tollen Vortrag in der Synagoge zu halten, in dem er über die jüdischen Gemeinden der Städte, die er besucht hat, berichtet. Der Gemeindesaal ist dabei voll – nicht, weil die Gemeindemitglieder den Vortrag von Herrn Grunwald hören wollen, sondern weil er den Zeitpunkt des Vortrages bewusst so gewählt hat, dass er nach dem wöchentlichen Bingospiel stattfindet.
„Und weißt du, was er dann ganz stolz während dieses Vortrages im Festsaal der Synagoge von Chicago verkündet? ‚Ich hatte ein sehr langes Interview mit dem Chief Rabbi von Vienna!‘“
Obwohl ich meinem Vater gerne Arbeit abnahm, gingen mir diese immer gleichen Informationsgespräche am Schabbat irgendwann auch schon ein wenig auf die Nerven. Da hatte mein Vater die nächste geniale Idee. Auf die Rückseite seiner Visitenkarte ließ er den folgenden Text drucken: Antisemitism: soso. Jews in Vienna: 8.000. Synagogues: 12. Jewish school: yes. Kids: 50 percent. Und wenn sich ihm in der Synagoge fortan ein amerikanischer Jude auch nur näherte, zückte er die Visitenkarte, drückte sie ihm in die Hand, wünschte einen guten Schabbes und machte sich mit mir auf den Weg zum Schabbat-Essen …
Ich habe trotzdem immer wieder mit amerikanischen Juden gesprochen, insbesondere mit solchen, die vor 1938 in Wien gelebt hatten. Viele von ihnen hatten Wien eigentlich nicht mehr sehen wollen, sich dann aber nach Jahrzehnten doch zu einem Besuch entschlossen.
Mehr geflohene jüdische Wiener, zumindest für ein paar Tage, nach Wien zurückzuholen gelang insbesondere, als ab den Achtzigerjahren unter Bürgermeister Helmut Zilk ein sehr rühriger Chef des sogenannten Jewish Welcome Service, Leon Zelman, aktiv war. Ein Jude, der aus Wien geflohen war und durch das Welcome Service nun wieder in der Heimat seiner Kindheit stand, sagte später einmal im Stadttempel zu mir: „Wissen Sie, ich habe meine Bar Mizwa in dieser Synagoge gehabt – aber sie war damals noch viel größer.“
Als kluger Rabbiner, der ich inzwischen war, antwortete ich dem Mann: „Nein! Sie war nicht größer – aber Sie waren kleiner.“
Er hat unter Tränen gelächelt. Weinen und lachen zugleich gehört nämlich zu dem, was wir Juden gut können.
MUSIK HABE ICH MEIN LEBEN LANG geliebt und ich liebe sie noch immer.
In meinem Leben hatte ich die verschiedensten jüdischen Lieblingssänger, deren Platten ich gesammelt habe, von denen ich nur einen Teil live gesehen habe. Einmal aber war ich vor etwa zwanzig Jahren in Jerusalem und sah, dass ein Sänger, der längst in der Versenkung verschwunden war, dort ein Konzert gab. Da wollte ich unbedingt hin, weil ich diesen Sänger nie live gehört hatte und er nach seinen Plattenaufnahmen für mich einer der Größten war. Allerdings war er zur Zeit der Aufnahmen, die ich von ihm kannte, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Inzwischen musste er um die fünfzig sein. Ob seine Stimme gehalten hatte? Ich war gespannt.
Er trat in Jerusalem in einem kleinen Saal auf, was klug war, weil er den Zenit seiner Popularität längst überschritten hatte. Zu seinen Topzeiten hätte er einen Saal mit fünfhundert Leuten leicht gefüllt.
Als ich zum Konzertsaal kam, sah ich, dass mit mir nur vier Zuschauer vor Ort waren. In diesem Moment war ich mir sicher, dass der Sänger absagen würde, und enttäuscht, dass mir damit die wohl letzte Gelegenheit entgehen würde, ihn einmal live zu erleben. Ich dachte mir, er wird jedem seine hundert Schekel zurückgeben und sagen: Tut mir leid.
Er aber ging auf die Bühne und sang mehr als eine Stunde lang so, als ob der Saal voll wäre.
Das ist für mich ein Profi. Oder ein feiner Mensch. Ich erzähle diese Geschichte deshalb, weil sie zeigt, dass man auf den verschiedensten Gebieten des Lebens Beispiele finden kann, die sich auf das eigene Leben anwenden oder übertragen lassen.
So ernst, wie dieser Sänger seinen Beruf nahm, sollten wir alle es tun – oder wir sollten es zumindest versuchen. Zum Beispiel jetzt, in der Corona-Zeit, singe ich auch vor dreißig Leuten, obwohl