Название | Wissenssoziologie |
---|---|
Автор произведения | Hubert Knoblauch |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846341568 |
Das historische Stufenmodell, also Vicos Dreistadiengesetz der Dekadenz, wurde auch in der Aufklärung aufgenommen, erfuhr jedoch eine andere Betonung: Die Aufklärung sieht den Gang der Geschichte nicht mehr als zyklisch, sondern als linearen Fortschritt. Eine solche lineare historische Entwicklung des Geistes hatte schon Turgot 1750 in seinem »Discours sur les progrès successifs de l’esprit humain« behauptet, in dem die Idee des Fortschritts zum integralen Prinzip der Geschichtsinterpretation gemacht wurde. Die Geschichte entfalte sich aus einem ersten theologischen Stadium zu einem zweiten metaphysischen Stadium und münde schließlich [36]in ein drittes positives Stadium, das von einer wissenschaftlichen Orientierung geprägt sei. Turgot ist damit einer der ersten, der sich die Geschichte als eine aufsteigende Entwicklung vorstellt, in der die Menschen zur selbstverantworteten innerweltlichen Vollendung empor gelangen. Die Menschheit erscheint dabei wie ein einziges Subjekt, das an seiner Vervollkommnung arbeitet: seine Natur entfaltet, seinen Geist aufklärt, seine Gefühle ausweitet und reinigt, das weltliche Los verbessert, Tugend, Freiheit und Wohlstand mehrt.
Einflussreicher noch war Condorcets »Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain«, das mitten in der französischen Revolution im Jahre 1793 geschrieben wurde. Manche behaupten, dass hier zum ersten Mal ein klares Verhältnis zwischen sozialen Strukturen und denen des Denkens erkannt worden sei.28 Denn für Condorcet steht der menschliche Geist in einem perfekten Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wirft jedoch keinerlei Probleme der Täuschung oder des Irrtums auf, da der Fortschritt des menschlichen Geistes, der Fortschritt des Wissens, der Fortschritt der Wissenschaft und der der Menschheit verschiedene Aspekte derselben Bewegung darstellten, die vom Geist angetrieben werde.29 Der Fortschritt der Wissenschaften, so Condorcet, sicherte den Fortschritt der Erziehung, die wieder die Wissenschaft voranbringe. Dieser gegenseitige Einfluss sei eine der mächtigsten und wirksamsten Ursachen für den Weg zur vollkommenen Menschheit.30
Während Voltaire, Turgot und Condorcet die aufklärerischen Gedanken mit der Geschichtsphilosophie zur Fortschrittsvorstellung verbanden, wurde Vico ab den 1820er-Jahren zu einer wichtigen Inspiration der Gegenreaktion auf die Aufklärung. Autoren wie de Maistre, Bonald oder Mme de Stäel bezogen sich auf ihn, weil sie sich gegen die einseitige Verdammung der Religion und den rein rationalistischen Zugang zur Gesellschaft durch die Aufklärung wehrten. Vico wurde zu so etwas wie der Leitfigur der französischen Romantik – und nahm eine ähnliche Rolle ein wie Hegel in Deutschland.31
Auf eine besondere und folgenreiche Art wurde die Beziehung zwischen dem Denken und der Geschichte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert.32 Hegels Grundgedanke der Dialektik geht von einem ursprünglichen Gegensatz zwischen Gedanken und Wirklichkeit aus. Da der Mensch zur Selbsterkenntnis fähig ist, also sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann, ist er in der Lage, aus dem Gegensatz von Gedanke und Wirklichkeit eine Wirklichkeit zu machen, [37]die vom Gedanken geleitet wird.33 Deswegen kann Hegel im menschlichen Zusammenleben und in den Manifestationen menschlichen Tuns, wie Kunst, Religion und Wissenschaft, auch einen Ausdruck dessen sehen, was er den Geist nennt.
Wegen der »Geistdurchdrungenheit« der Wirklichkeit wird sein Ansatz auch als idealistisch bezeichnet. Der Kern dieses Idealismus besteht darin, dass die äußere Wirklichkeit nicht als selbstgenügsam gilt, sondern durch geistige Bedeutungen, durch Begriffe geleitet wird und somit das Geistige aufnehmen oder ausdrücken kann. Denn indem der Mensch seine Begriffe in die Tat umsetzt (und dies keineswegs nur zweckrational), »objektiviert« er sie – und sich selbst als Handelnden – in der Geschichte und kann sie (und sich) in dem, was er objektiviert hat, erkennen. Es gibt also eine Art »objektiven Geist« – etwa den Volksgeist – die Selbsterkenntnis des Menschen durch das, was er erzeugt hat.
Dieser objektive Geist nun realisiert sich in der Gesellschaft bzw., wie Hegel betont, in der Geschichte: Der Geist drückt sich in sozialen Formen aus und wird dadurch auch in der Sozialität erkennbar. Indem der Mensch seine sozialen Beziehungen zum Beispiel in rechtlichen Formen, in religiösen Gestaltungen oder im Staat objektiviert, kann er auch seine eigenen Beziehungen als selbst produziert erkennen. Dem Recht und dem Staat schreibt Hegel dabei eine besondere Rolle zu, da Recht und Staat für den Zusammenhang der gesellschaftlichen Handlungen verantwortlich seien. Auch die Religion ist für ihn durchaus eine der Formen, in denen der objektive Geist erscheint. Allerdings handelt es sich bei ihr um eine eigenartige Form: Sie ist eine List der Vernunft, mit der der Weltgeist die Akteure dazu bringt, das zu tun, was an der Zeit ist, auch wenn sie meinen, etwas anderes zu tun.
In der historischen Entfaltung solcher sozialen Formen komme der Geist immer mehr zu sich selbst – und das gelinge ihm, indem er die Formen wechsele. Es sei nun allerdings nicht die Form der Religion, die seine zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft integrieren könne, sondern vielmehr der Staat, da in ihm der Wille zur objektiven Wirklichkeit werde. In ihm finde die zerstückelte und individualisierte bürgerliche Gesellschaft ihre Einheit. »Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«34 Hegel hat somit als einer der ersten den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft erkannt und zugleich den Staat auf eine Weise idealisiert, wie sie gerade für die deutsche Geschichte tragisch werden sollte.
Die besondere geschichtsphilosophische Wendung Hegels besteht darin, dass er die Verwirklichung des Geistes als eine aufsteigende, fortschreitende Linie sieht. Zwar hat [38]jede historische Gesellschaft ihren eigenen »Zeitgeist«, der alle Wissensvorgänge leitet, die zu dieser Zeit ablaufen. Aus diesem Grunde ist auch jeder Gedanke zu seiner Zeit vernünftig, auch wenn er aus dem Blickwinkel einer späteren Zeit als unvernünftig erscheinen mag.35 Die Geschichte insgesamt aber stellt für ihn eine allmähliche Annäherung an die Vernunft dar. Sie lässt sich deswegen als Rationalisierung verstehen. Es ist »der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung, der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewusstsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat«.36
Historisch hatte auch schon das Christentum dazu beigetragen. Eine revolutionäre Wende nimmt die Entwicklung des Geistes aber, wenn die Vernunft beginnt, sich in den Sozialgebilden zu offenbaren, wie dies in der französischen Revolution geschieht. Werte und Normen erscheinen dem Menschen nun nicht mehr als etwas religiös Begründetes oder Jenseitiges. Vielmehr ringen sich die Menschen dazu durch, die soziale Welt nach dem Muster der eigenen Vernunft gestalten zu wollen. Dieser Versuch führt nicht nur zur Freiheit, zur Emanzipation der Subjekte, also des subjektiven Geistes. Sie hat auch zur Folge, dass die Handlungen der Subjekte zufällig werden, da sie nur noch ihre eigenen partikularen Ziele verfolgen, ohne in ihren Handlungen jedoch das Allgemeine des menschlichen Geistes entdecken zu können. Dieses besondere Problem der Partikularität wird für Hegel erst mit dem Staat behoben: Hier findet die Weltgeschichte ihr Ziel, denn hier gelangt der kollektive Geist nicht nur zum Wissen, was er ist. Er macht dies auch gegenständlich in einem für alle Individuen als Orientierung und gemeinsame »Objektivierung« zugänglichen und als Handlungsziel leitenden Gemeingebilde.
Hegels Geschichtsphilosophie ist eigentlich eher eine Vereinnahmung des Sozialen unter den Geist bzw. das Wissen, wird doch die Vernunft zum organisierenden Prinzip der Wirklichkeit. Aber genau dieser Gedanke zeichnet ja den Idealismus aus: dass das Wissen die sozialen Zusammenhänge leiten kann. Für die Entstehung der Wissenssoziologie ist dieser Gedanke von Bedeutung, weil er das Verhältnis von Gesellschaft und Wissen als etwas historisch Wandelbares fasst. Hegel treibt diesen Gedanken noch auf die Spitze, indem er das Soziale (wie etwa den Staat) zu einer Form des