Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen. Thomas Hülshoff

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Название Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen
Автор произведения Thomas Hülshoff
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348505



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zu ändern ist, kann zumindest versucht werden, mit den sie begleitenden Gefühlen wie Ärger, Wut oder Trauer besser umzugehen und sie zu verarbeiten. Auch Entspannungsübungen und andere Methoden (s. u.) dienen zumindest zum Teil diesem Zweck.

      Bewertungsorientiertes Coping

      Schließlich spricht man vom bewertungsorientierten Coping, wennes zu einer Neubewertung („reappraisal“ nach Lazarus) der Situation kommt. Wenn beispielsweise eine gestresste Person ihr Verhältnis zur Umwelt neu bewertet – eventuell auch nach schon erfolgten Veränderungen –, kann eine zuvor als aussichtslos gesehene Krise nun möglicherweise als eine eher belastende Herausforderung, also positiver gesehen und gewertet werden, was seinerseits neue Ressourcen freisetzt.

      Die Arbeiten von Lazarus haben die Stressforschung grundlegend verändert, neu interpretiert und bis heute geprägt. Von nun an ging es nicht mehr primär um die Analyse physiologischer und biochemischer Vorgänge, sondern vor allem um die Untersuchung psychologischer sowie psychosozialer Parameter. So ging es beispielsweise bei dem Konzept der Selbstaufmerksamkeit darum, die Aufmerksamkeit auf sich selbst, das Selbstkonzept oder das Selbstwertgefühl zu lenken. Private Selbstaufmerksamkeit meint die Erfahrung des eigenen Zustandes, den niemand anders letztlich beurteilen kann (Körperempfindung, Stimmungen, Einstellungen, Phantasien etc.). Aber auch die öffentliche Selbstaufmerksamkeit, also die beobachtbare äußere Erscheinung oder das Verhalten, Umgangsformen etc. können von Bedeutung sein. Zwischen Selbstaufmerksamkeit und sozialer Angst sowie Stresserleben bestehen große Zusammenhänge, und eine realitätsnahe Selbsteinschätzung kann durchaus zum Stressabbau beitragen.

      Attributionstheorien

      Dies führt uns zu Attributionstheorien, also allgemeine Ansätze der Psychologie, die beschreiben, wie Individuen Informationen nutzen, um kausale Erklärungen für menschliche Verhaltensweisen vorzunehmen. Mit dem Konzept Seligmans zur erlernten Hilflosigkeit haben wir bereits eine solche Attributionstheorie kennen gelernt und gesehen, wie ein Circulus Vitiosus im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein gestresstes Individuum noch hilfloser und im Gefolge noch gestresster werden lässt.

      Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura)

      In den 1970er-Jahren entwickelte der kanadische Psychologe Albert Bandura, ein Pionier der kognitiven Lerntheorie, das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung, also einer Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können – fast spiegelbildlich das Gegenteil der erlernten Hilflosigkeit. Bandura (1977) stellte fest, dass Personen mit starkem Glauben an die eigene Kompetenz größere Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben haben und außerdem eine niedrigere Anfälligkeit für Angststörungen und Depressionen zeigen.

      Auch hier wirken sich Selbstwirksamkeitserwartungen und Handlungsergebnisse zirkulär aus, allerdings im Sinne eines „high performance cycle“, also einer positiven Rückkopplung. Er benannte vier Quellen von Selbstwirksamkeitserwartung, nämlich eigene Erfolgserlebnisse, stellvertretende Erfahrungen, verbale Ermutigungen sowie emotionale Erregung. Dabei handelt es sich bei der emotionalen Erregung um positive Erregung im Sinne von Belohnungs- und Flow-Erlebnissen, die nicht selten durch Dopaminausschüttung getriggert werden. Bei der „stellvertretenden Erfahrung“ (vicarious experience) traut man sich selbst mehr zu, wenn man andere Menschen bei der Meisterung von Problemen beobachtet hat: Man wird also durch Vorbilder beeinflusst. Die Kompetenzerwartung beeinflusst und verändert das Verhalten: Eine hohe Selbstwirksamkeit beflügelt die Inangriffnahme schwieriger Aufgaben, man investiert mehr Anstrengung, erträgt mehr Schmerzen und bewältigt schlussendlich besser anstehende, durch Stress gekennzeichnete Aufgaben.

      Salutogenese (Antonovsky)

      Bisher haben wir uns damit beschäftigt, dass dysfunktionaler Stress zu Krankheiten führen kann. Insbesondere im Vulnerabilitäts-Stress-Konzept kommt zum Ausdruck, dass ungünstige biographische Faktoren wie beispielsweise Traumen zu einer erhöhten Verletzlichkeit führen, die bei zusätzlicher massiver Stressexposition in eine akute Krankheit umschlagen kann. Dieses Modell fußt, wie bereits erwähnt, auf einem biopsychosozialen Krankheitsverstehen. Der Paradigmenwechsel vom rein naturwissenschaftlichen zum biopsychosozialen Krankheitsmodell führte seit den 1980er-Jahren aber auch zu dem Modell der „Salutogenese“, das 1979 vom Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eingeführt wurde. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Gleichzeitig geht es um die Stärkung von gesundheitserhaltenden Faktoren. Antonovsky, der sich intensiv mit Lebensläufen und Gesundheit und Krankheit von Überlebenden des Holocaust befasst hatte, fragte sich, warum gleiche Stressoren bei einer Person zu chronischer Belastung oder Krankheit führen, bei anderen hingegen nur zu einer kurzen Krise oder sogar zu einer späteren Verbesserung des Allgemeinzustandes, warum also Menschen trotz großer psychischer oder physischer Belastung gesund bleiben können. Solche zur Salutogenese (lat. salus: Heil, gr. genesis: Entstehung) beitragenden, gesundheitsfördernden Faktoren werden heute als „Resilienzfaktoren“ (Schutzfaktoren) bezeichnet. Sie können u. a. in einer genetisch bedingten, geringeren Vulnerabilität (beispielsweise hinsichtlich Serotoninverschiebung und Depression), Temperamentsunterschieden, Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, einem positiven Selbstwertgefühl, einer inneren Kontrollüberzeugung oder dem Vertrauen auf Selbsthilfemöglichkeiten bestehen. Auch soziale Faktoren wie Gesprächsmöglichkeiten auf der Meta-Ebene (beispielsweise bei schicksalsbedingten Lebenskrisen) oder familiärer Schutz können sich gesundheitsfördernd auswirken.

      Kohärenz

      Im Zentrum von Antonovskys (1997) Untersuchungen steht der „Sinn für Kohärenz“ (sense of coherence) bzw. ein „Kohärenzgefühl“. Darunter versteht man ein durchdringendes und andauerndes, gleichzeitig dynamisches Gefühl des Vertrauens darauf, dass

      ■ Stimuli und Stressoren aus der inneren und äußeren Umgebung strukturiert, voraussehbar und erklärbar sind,

      ■ Ressourcen zur Verfügung stehen, um diesen Anforderungen zu begegnen,

      ■ es sich bei diesen Herausforderungen um solche handelt, die Anstrengung und Engagement lohnen.

      Nach Antonovsky (1997) speist sich das Kohärenzgefühl aus drei Empfindungen:

      1. der Verstehbarkeit der Situation,

      2. der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit der anstehenden Herausforderung und

      3. dem Gefühl von Sinnhaftigkeit des Geschehens.

      Sowohl in Stress-Situationen als auch bei Krisen unterschiedlichster Formen, nicht nur bei Krankheit, kann die Beachtung dieser Empfindungen sehr hilfreich sein: Wer z. B. bei der Diagnose einer Krebserkrankung versteht, um was es bei Erkrankung und Therapie geht, wer davon überzeugt ist, dass er die nun anstehenden Herausforderungen handhaben und bewältigen kann, und wem es schließlich gelingt, das Krankheitsgeschehen in die eigene Biographie sinnhaft einzubetten, wird wesentlich besser mit der Krisensituation und dem damit verbundenen Stress umgehen können. Psychoedukative Schulungen, Selbsthilfegruppen und Maßnahmen, die weitgehend als „Empowerment“ bezeichnet werden, setzten hier mit unterschiedlichen Methoden an, was in den jeweiligen Kapiteln konkret zu zeigen sein wird.

      Stressbewältigung

      Zur Stressbewältigung stehen sehr unterschiedliche Ansatzpunkte zur Verfügung. Zum einen können unnötige Stressoren beseitigt, zum anderen die individuelle Stressanfälligkeit vermindert werden. Medizinische und therapeutische Behandlungen stehen ebenso wie Maßnahmen im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe zur Verfügung, und neben der humaneren Gestaltung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen, beispielsweise am Arbeitsplatz, liegen entscheidende Aspekte zur Stresskontrolle auf der somatischen Ebene in körperlichem Training, ausreichendem Schlaf und gesunder Ernährung, auf der psychischen Ebene in der Veränderung inadäquater Bewertungsmuster im Sinne einer realitätsangemessenen Neuorientierung, und schließlich auf der Verhaltensebene beispielsweise im Abbau von Risikoverhalten und dem Erlernen geeigneter Freizeitverhaltensweisen. Ziel solcher Maßnahmen ist es nicht, den Stress an sich abzuschaffen, da Stress ein konstituierendes Moment der Conditio Humana ist, sondern Dysstress zu reduzieren und zu kontrollieren.

      Stressvermeidung

      Stress kann