Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen. Thomas Hülshoff

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Название Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen
Автор произведения Thomas Hülshoff
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348505



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sowie den psychologisch-sozialen Aspekten des Stressgeschehens und der Stressreaktion zu befassen, zum anderen die biologischen sowie psychodynamischen Grundlagen der Traumatisierung und der Entstehung der posttraumatischen Belastungsstörung zu fokussieren. Dies geschieht in den beiden folgenden Kapiteln.

      Auf einen Blick

      ■ Krisen entstehen in der Konfrontation mit neuen Herausforderungen, die als überfordernd erlebt werden, und gehen häufig mit Ohnmachtsgefühlen, Hilflosigkeit und Verlust der Selbstwirksamkeitserwartung einher.

      ■ In einer Notfallsituation hat sich die Situation so zugespitzt, dass die Gefahr einer schweren seelischen oder körperlichen, möglicherweise irreversiblen oder lebensbedrohlichen Gefährdung besteht.

      ■ Man kann Verlustkrisen, Krisen bei lebensverändernden Ereignissen, Entwicklungskrisen, Krisen bei Traumatisierungen, narzisstische Krisen und psychiatrische Notfälle unterscheiden

      ■ Krisen beinhalten sowohl die Gefahr des Scheiterns oder des Entwicklungsstillstandes als auch die Chance, ein neues Entwicklungsniveau zu erreichen, Kompetenzen zu erweitern und neue Handlungsspielräume zu erlangen.

      ■ Neben der Krisenintervention gehört auch die Begleitung der Klienten an den Schnittstellen von Krise und Notfallsituation zu den Aufgaben in den Arbeitsfeldern der Pädagogik, sozialen Arbeit und Psychologie.

      Multiple-Choice-Fragen zu diesem Kapitel finden Sie unter testfragen. reinhardt-verlag.de

      Sympathikus-Nebennierenmark-Achse

      Unter Stress verstehen wir im weitesten Sinne ein Ereignis, in dem durch spezifische äußere oder innere Reize (Stressoren) die Anpassungsfähigkeit eines Individuums beansprucht (oder überbeansprucht) wird und das mit psychischen und physischen Reaktionen dieses Individuums einhergeht, die es zur Bewältigung dieser besonderen Anforderungen befähigen. Die auslösenden Ereignisse werden als Stressoren, die sich hieraus ergebenden Reaktionen des Körpers als „Stress“ bezeichnet.

      Eustress und Dysstress

      Stress ist durch das Leben an sich bedingt ein notwendiger Anpassungsmechanismus an außergewöhnliche Leistungen. Handelt es sich um eine Reaktion auf Stressoren, die den Organismus zwar beanspruchen, aber nicht zu einer Überforderung führen, so wird dies als Eustress bezeichnet. Dieser wirkt sich positiv aus, da er die Aufmerksamkeit erhöht und die maximale Leistungsfähigkeit des Individuums gewährleistet. Unter Dysstress hingegen versteht man einen als negativ empfundenen Stress, der häufig oder dauerhaft auftritt und psychisch wie körperlich nicht kompensiert werden kann, wodurch er als bedrohlich bzw. überfordernd erlebt wird und bei längerer Andauer zu chronischen Anspannungen des Körpers und auf die Dauer zur Abnahme der Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit, schließlich auch zu Fehlfunktionen, Krankheit oder Tod führen kann.

      Zwei Stressreaktionen

      Es gibt zwei unterschiedliche Wege des Organismus, auf ein stressendes Ereignis zu reagieren. Zunächst wird ein von einem Stressor ausgehender Reiz von Sinneszellen aufgenommen und an den Thalamus im limbischen System weitergeleitet. Hier entsteht ein noch ungenaues, vorbewusstes, wenngleich sehr wirkmächtiges Bild der Situation. Einerseits wird die Information an die Großhirnrinde weitergeleitet, die mithilfe von Erinnerungen ähnlicher Situationen ein konkretes Bild generiert, wobei die Situation differenzierter beurteilt werden kann. Dieses Prozedere dauert allerdings länger als der direkte Weg vom Thalamus zur Amygdala, bei dem neben einer emotionalen Reaktion auf die Situation vor allen Dingen die eigentliche körperliche Stressreaktion ausgelöst wird.

      Der Botenstoff Noradrenalin setzt die Stressreaktion über die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse fort, indem er den unbewusst arbeitenden Nervus sympathicus des vegetativen Nervensystems aktiviert. Diese sympathikotone Reaktion des vegetativen Nervensystems bereitet die Fight-and-Flight-Reaktion des Körpers vor.

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      Flight-or-Fight-Reaktion

      Wie in Abbildung 1.2.1 zu sehen ist, wird über diese Reaktionsschiene zum einen das Nebennierenmark veranlasst, Adrenalin auszuschütten, ein zweites Stresshormon aus der Gruppe der Catecholamine. Zum anderen beeinflussen Noradrenalin und Adrenalin synchron eine ganze Reihe von Organen so, dass Kampf oder Flucht ermöglicht werden. Beispielsweise wird der Kreislauf aktiviert (Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck), die Atemfrequenz wird erhöht, Muskeln werden vermehrt mit Energie versorgt, um kräftiger, koordinierter und schneller reagieren zu können, das Gehirn erhält mehr Sauerstoff und Zucker, um passende Lösungsstrategien zu finden, die Pupillen erweitern sich, was einer gezielten Gefahrenerkenntnis förderlich ist, die Blutgerinnungsfähigkeit steigt, um im Verletzungsfall nicht zu viel Blut zu verlieren, die Schmerzempfindlichkeit sinkt (was u. a. durch eine vermehrte Ausschüttung von körpereigenen Opiaten, sog. Endorphinen, bewerkstelligt wird), Fett- und Zuckerreserven aus Leber und Fetteinlagerungen werden abgebaut und als Energielieferanten benutzt, und der entstehenden Körperwärme mit entsprechender Überhitzungsgefahr wird durch eine vermehrte Schweißproduktion (Verdunstung) begegnet. All dies führt dazu, dass der Körper für die Flight-or-Fight-Reaktion gerüstet ist. Gelingt die Bewältigung des drohenden Ereignisses, so wird die Glutamatproduktion gestoppt, was zu einem Abbau von Noradrenalin und Adrenalin, einer Senkung der sympathischen Aktivität und einem Sistieren der Stressreaktion führt.

      Nebennierenrinden-Kortisol-Achse

      Gelingt die Anpassung nicht, so wird diese Aktivierung beibehalten (Dauerstress), es werden also vermehrt und verlängert Noradrenalin und Adrenalin ausgeschüttet, und zudem setzt das Glutamat eine erweiterte Stressreaktion über die zweite Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Kortisol-Achse) in Gang, auf die die rechte Seite der Abbildung 1.2.1 hinweist. Dabei produziert die Nebennierenrinde verstärkt Kortisol. Dieses dritte Stresshormon ist wesentlich daran beteiligt, Glukose aus Fettspeichern zu mobilisieren und dem Körper Energien für die Stressreaktion zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig sorgt es dafür, dass – wenigstens im Moment – zweitrangige Körperfunktionen reduziert werden. Dies gilt vor allem für das Immun- bzw. Abwehrsystem: Kortison hat eine das Immunsystem schwächende Wirkung. Mit anderen Worten: Ein akutes, stressendes Ereignis kann durch die von den Catecholaminen Adrenalin und Noradrenalin vermittelte Reaktion der ersten Stressachse im Sinne der Fight-and-Flight-Reaktion adäquat und schnell gelöst werden, so dass der hier aufgetretene Stress als „Herausforderung“ erlebt und schnell überwunden wird.

      In einer verlängerten Stressreaktion – beispielsweise aufgrund anhaltender gefährdender Situationen – kommt die zweite Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde-Kortisol) zum Tragen, weil hier über längere Zeit ein erhöhter Stressbewältigungslevel aufrechterhalten werden muss. Dies wird in der Regel nicht als Herausforderung (challenge), sondern als ernstzunehmende und bedrohliche Krise (crisis) erlebt. Dennoch handelt es sich in beiden Szenarien um Stress, für den unser Körper prinzipiell angelegt ist. Erst in einer dritten Phase, bei der der gefahrenbedingte Stress als entweder grundsätzlich nicht zu lösen oder auf Dauer nicht zu beenden erlebt wird, kommt es zum Kontrollverlust (loss) und im Gefolge zu Panik und Trauma bzw. Erschöpfung. Mit anderen Worten: Chronischer Dysstress kann krank machen.

      Stress und Krankheit

      Beim Stressgeschehen kommt es nicht nur zu einer physischen Belastung, sondern auch zu einer starken psychischen Anspannung, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird. Diese emotionalen Erregungszustände, hervorgerufen durch unterschiedliche Auslöser, verursachen die relativ einheitlichen somatischen Stressreaktionen. Als Stress assoziierte Emotionen werden oft Angst, Wut, Aggression