Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic

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Название Medienrezeptionsforschung
Автор произведения Helena Bilandzic
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846340035



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in das rationale Kalkül, das hinter der Mediennutzung steht. Auch gilt es mittlerweile als gut gesichert, dass die Nutzungsmotive mit sozialen und psychologischen Merkmalen der Rezipienten korrelieren, so dass man schon von stabilen Charakteristiken sprechen kann (vgl. Burst, 1999; Henning & Vorderer, 2001; Rubin, 1984). Zudem lassen sich durch die Nutzungsmotive tatsächlich Präferenzen für bestimmte Inhalte vorhersagen (vgl. Gleich, 1997; Potts, Dedmon & Halford, 1996; Trepte, Zapfe & Sudhoff, 2001).

      Ob ein Motiv durch die Rezeption befriedigt wird, lässt sich freilich nicht vor der Rezeption vollständig klären. Gewissheit darüber besteht erst nach der Rezeption. Daher wird auch zwischen gesuchten Gratifikationen und erhaltenen Gratifikationen unterschieden (vgl. Palmgreen, 1984). Menschen hegen bestimmte Erwartungen an Medien oder Medieninhalte in Bezug auf die potenzielle Befriedigung ihrer gesuchten Bedürfnisse. Nach der Rezeption gleichen sie die erhaltenen Bedürfnisse mit diesen Erwartungen ab, was wiederum zukünftige Erwartungen beeinflusst. Die Differenz aus gesuchten und erhaltenen Gratifikationen bestimmt schlussendlich den Grad der Befriedigung der Bedürfnisse. Anders formuliert, das Publikum wählt diejenigen Inhalte aus, bei denen die Schere zwischen erwarteten und erhaltenen Gratifikationen am geringsten ausfällt (vgl. Eilders, 1999).

      Es handelt sich beim Nutzen- und Belohnungsansatz mitnichten um eine Theorie, sondern vielmehr um eine Forschungsperspektive, die auf motivationale Determinanten der Mediennutzung Wert legt. Der Ansatz ist auch nicht ohne Kritik geblieben. Es lassen sich mehrere zentrale Einwände unterscheiden (vgl. Schweiger, 2007):

       Der Ansatz nimmt eine individuumszentrierte Sichtweise ein, indem er die Bedürfnisse aus Sicht einzelner Individuen beschreibt, die losgelöst von sozialen Kontexten betrachtet werden. Gemeinsame Mediennutzung oder Mediennutzung als Gruppenereignis wird im Ansatz weitestgehend vernachlässigt. Der Ansatz ist zudem weitestgehend deskriptiv ausgelegt. Das bedeutet, die Motive werden in den Studien beschrieben, aber kaum erklärt bzw. theoretisch vorhergesagt. Dies resultierte in einer großen Sammlung von Motivkatalogen, die aber theoretisch nicht sehr wertvoll sind.

       Ganz zentral ist die Kritik, dass Mediennutzung nicht aus rationalen Überlegungen heraus erfolgen muss, sondern zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch unbewusst und wenig reflektiert erfolgen kann (vgl. Schönbach, 1997). Das bedeutet, Selektion kann ganz automatisch ablaufen, ohne dass sich Rezipienten dies vorher gezielt überlegen. Denken wir beispielsweise an das Hängenbleiben beim Zappen: Rezipienten bleiben auf einem Programm, ohne dass sie dies gezielt ausgewählt hätten und dies begründen könnten.

       Damit verbunden wurde hinterfragt, ob Menschen tatsächlich Auskunft über ihre Motive geben können, bzw. ob sie überhaupt in der Lage und willens sind, sich selbst klar zu machen, warum sie einen bestimmten Medieninhalt nutzen. Legt man den Befragten wie in der Nutzungsforschung üblich viele Motive in einem Fragebogen vor, so besteht die Gefahr, Antworten zu generieren, die ohne diese Fragen gar nicht erzeugt worden wären. Damit würden Projektionen der Forscher auf das Publikum erfasst, nicht aber die Motive des Publikums.

       Auch wird die subjektive Lebenssituation, insbesondere das zur Verfügung stehende Zeit- und Geldbudget im Nutzen- und Belohnungsansatz ausgeklammert. Dies ist aber für Selektionsentscheidungen geradezu zentral.

       Schließlich nimmt der Ansatz nur Motive zur Zuwendung, nicht aber Motive zur Vermeidung in den Blick. Wie Fahr und Böcking (2005) argumentieren, sind Selektionsentscheidungen nicht notwendigerweise Signale für die Befriedigung von gewünschten Motiven. Sie können ebenso Resultat der Vermeidung unerwünschter Inhalte sein. Dies wird auch als Programmflucht bezeichnet. Daran wird deutlich, dass der Ansatz nur einen Teilbereich des oben vorgestellten Selektionsbegriffes beschreiben kann.

      Eine andere Perspektive nimmt der konsistenztheoretische Ansatz ein. Demnach interessieren sich Individuen eher für Informationen, die konsistent zu ihrem kognitiven System sind, und sie vermeiden Informationen, die dazu inkonsistent sind. Damit wird an dieser Stelle ein Kritikpunkt des Nutzen- und Belohnungsansatzes wieder aufgegriffen: Dieser erklärt ja gerade nicht, warum Menschen bestimmte Inhalte vermeiden, sondern er beschäftigt sich mit der zielgerichteten Auswahl von Informationen. Dies erklärt auch, warum beide Ansätze weitestgehend unverbunden nebeneinander stehen, »obwohl sie eigentlich zwei Seiten einer Münze bilden« (Schweiger, 2007, S. 99).

      Im konsistenztheoretischen Ansatz wird postuliert, dass Menschen bestrebt sind, die eigenen Kognitionen (also Gedanken, Meinungen und Wahrnehmungen) konsonant, d. h. widerspruchsfrei, zu organisieren. Die dahinterliegende Theorie ist die Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957). Der Grundgedanke der Theorie der kognitiven Dissonanz ist der folgende (vgl. Frey & Gaska, 2001): Miteinander verbundene Kognitionen können in einem dissonanten oder einem konsonanten Verhältnis zueinander stehen. Hat beispielsweise ein Zuschauer die Kognitionen »Ich muss morgen früh aufstehen und muss deshalb bald schlafen gehen« und »Diese Nacht läuft ein spannender Film im Fernsehen«, so erzeugt dies Dissonanz, da beide Kognitionen unvereinbar sind. Hingegen stehen zwei Kognitionen in einer konsonanten Beziehung, wenn sie mit einander vereinbar sind, z. B. »Morgen früh kann ich ausschlafen« und »Diese Nacht läuft ein spannender Film im Fernsehen«. Wichtig ist dabei zu betonen, dass damit keine objektiven Unvereinbarkeiten gemeint sind, sondern subjektive. Ob eine Kognition mit einer anderen in einem konsonanten oder dissonanten Verhältnis steht, kann von Person zu Person und auch von Situation zu Situation variieren.

      Definition: kognitive Dissonanz

      Kognitive Dissonanz ist die Bezeichnung für einen als unangenehm erlebten Zustand, der durch zueinander im Widerspruch stehende Kognitionen ausgelöst wird. Prinzipiell sind Menschen bestrebt, kognitive Dissonanz zu vermeiden, bzw. wenn sie vorliegt, sie wieder abzubauen.

      Wenn Individuen Kognitionen haben, die sich widersprechen, also dissonant sind, so wird dies als unangenehm erlebt. Wie stark die Dissonanz vom Individuum erlebt wird, hängt ab von dem zahlenmäßigen Verhältnis der dissonanten zu den konsonanten Kognitionen und ihrer jeweiligen Wichtigkeit für das Individuum. Die Theorie der kognitiven Dissonanz ist aber nicht nur eine kognitive Theorie, sondern auch eine motivationale: Entsteht beim Individuum kognitive Dissonanz, so erzeugt dies die Motivation, die entstandene Dissonanz wieder zu reduzieren. Die Dissonanzreduktion kann dabei auf drei einzeln oder gleichzeitig ablaufende Arten erfolgen (vgl. auch Frey & Gaska, 2001, S. 277): durch die Addition neuer konsonanter Informationen, durch die Subtraktion von dissonanten Kognitionen (Ignorieren, Vergessen, Verdrängen) und durch die Uminterpretation und Umstrukturierung von dissonanten Informationen.

      Was hat nun die Theorie der kognitiven Dissonanz mit der Medienrezeption zu tun? Die Grundidee ist, dass Menschen die Medien nutzen und die Inhalte selektieren, die konsonant zu ihren bestehenden Einstellungen und Meinungen sind. Durch die selektive Auswahl von Informationen wird eine möglicherweise bereits bestehende kognitive Dissonanz wieder abgebaut und neu entstehende Dissonanz quasi im Keim erstickt. Im Unterschied zum Nutzen- und Belohnungsansatz macht der konsistenztheoretische Ansatz jedoch keine Aussage darüber, dass die Auswahl bewusst erfolgen muss bzw. die Rezipienten sich dies bewusst vergegenwärtigen müssen. Folgerichtig werden in diesen Studien die Menschen nicht direkt gefragt, ob sie lieber die Informationen auswählen, die ihren Einstellungen entsprechen. Vielmehr wird meist in experimentellen Designs in einem ersten Schritt die Voreinstellung erhoben. In einem zweiten Schritt wird in einer Selektionsaufgabe beobachtet, ob die Rezipienten eher Inhalte auswählen (beispielsweise basierend auf Überschriften), die ihren Einstellungen entsprechen (vgl. Knobloch-Westerwick & Meng, 2009).

      Die selektive Auswahl umfasst im konsistenztheoretischen Ansatz zwei Dinge: Zum einen fällt darunter die Auswahl von Inhalten der Massenkommunikation. Dies wird als Selective Exposure bezeichnet. Personen suchen Inhalte, die ihren Überzeugungen entsprechen, und sie vermeiden Inhalte, die ihren Überzeugungen entgegenstehen. Aus dieser Sicht ist es wahrscheinlicher, dass Menschen mit konservativen politischen Einstellungen keine Zeitungen lesen werden, die eine eher links gerichtete Blattausrichtung verfolgen. Die selektive Suche und das selektive Vermeiden von Inhalten sind umso stärker ausgeprägt, je höher die kognitive Dissonanz ist und umso unsicherer sich Personen in ihren ursprünglichen Überzeugungen sind (vgl. Schenk, 2007).