Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies

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Название Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор произведения Ingo Pies
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345757



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dass die Verwendung kontra-intuitiver Elemente im Rahmen einer Theorie möglich wird, die darauf zugeschnitten ist, letztlich plausible, intuitiv erfassbare Ergebnisse hervorzubringen.[13]

      Gerade diese Ausrichtung auf intuitiv erfassbare Ergebnisse, das Bemühen um Anschlussfähigkeit an die in der Realität bereits vorhandenen Vorstellungen macht deutlich: Der gesamte Theorieaufriss der Rawlsschen Konzeption von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ folgt einer gesellschaftspolitischen Problemstellung. Das Ziel der Theoriebildung besteht ausgewiesenermaßen darin, einen wissenschaftlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu leisten, der als solcher selbst Teil der öffentlichen Kultur moderner Demokratien werden soll. Rawls geht es darum, einen öffentlichen Konsens darüber herstellen zu helfen, wie jene Ideale, die sich als Kern der abendländischen Tradition herausgebildet haben: wie Freiheit und Gleichheit in einer modernen Gesellschaft durch die Grundstruktur des Institutionensystems zur Geltung gebracht sind bzw. gegebenenfalls zur Geltung gebracht werden könnten. Zu diesem Zweck stellt er mit ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ eine Konzeption vor, in der die Menschen ihre oft nur latenten oder impliziten Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit in einer Weise expliziert sehen, die ihnen nach reiflicher Überlegung als angemessen erscheinen und dann als Basis dienen kann, einen Konsens zu formulieren, von dem aus schließlich konkrete Politikprobleme auf eine konstruktive Weise angegangen werden können.

      Es erleichtert ein angemessenes Verständnis der Rawlsschen Philosophie, wenn man zwischen drei Theorie-Ebenen unterscheidet: der Ebene des Urzustands, der Ebene der wohlgeordneten Gesellschaft und schließlich der Ebene der realen Gesellschaft. Diese drei Ebenen haben einen ganz unterschiedlichen Status, vgl. Abbildung1.

      Der Urzustand ist ein Konstrukt zu Darstellungszwecken, die wohlgeordnete Gesellschaft ist ein normatives Ideal, und die reale Gesellschaft ist der Adressat der Theorie. Deshalb werden die drei Ebenen auch von unterschiedlichen Akteuren bevölkert. Im Urzustand handeln rationale Parteien unter vernünftigen Bedingungen. In der wohlgeordneten Gesellschaft leben fiktive Bürger, die mit einem Gerechtigkeitssinn ausgestattet sind, und in der realen Gesellschaft leben Menschen aus Fleisch und Blut. Das Ergebnis der ersten Theorieebene sind Gerechtigkeitsgrundsätze, und das Kriterium hierfür ist eine angemessene Repräsentation der Idee von fairer Kooperation zwischen freien und gleichen Bürgern. Das Ergebnis der zweiten Theorieebene ist eine Gerechtigkeitskonzeption, und das Kriterium hierfür ist ein doppeltes: zum einen die Anerkennung der Gerechtigkeitsgrundsätze von Ebene 1; zum anderen die Stabilität der Gerechtigkeitskonzeption auf Ebene 2. Das Ergebnis der dritten Theorieebene ist eine Gerechtigkeitstheorie. Das entsprechende Kriterium hierfür besteht in einem Überlegungsgleichgewicht zwischen den Ebenen 1 und 2 einerseits und den moralischen Intuitionen andererseits.

      |13|Abbildung 1:

      Überblickstafel zur Gerechtigkeitstheorie

      Zur Erläuterung: In bezug auf die erste Ebene erhebt Rawls den Anspruch, dass die Ableitung der von ihm vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze aus dem Urzustand zwei Bedingungen genügt: erstens, dass im Urzustand der Begriff moralischer Personalität – präziser: der Begriff einer moralischen Person, die zu dauerhafter sozialer Kooperation mit anderen moralischen Personen auf der Basis von Freiheit und Gleichheit fähig ist – angemessen repräsentiert ist; und zweitens, dass diese Ableitung aus dem Urzustand die beiden Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze gegenüber allen anderen bekannten Alternativen als überlegen ausweist. Insgesamt betrachtet, konstituiert die Einigung im Urzustand einen hypothetischen Konsens rationaler Modellkonstrukte, der allerdings so beschaffen ist, dass sich ein fiktives Publikum: konstituiert durch die gedachten Bürger einer gedachten idealen Welt, als freie und gleiche Personen in einem solchen Übereinkommen wiederfinden kann. In bezug auf die zweite Ebene stellt Rawls den Anspruch, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, auf die sich die Parteien im Urzustand einigen, die institutionelle Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft wirksam regulieren können. Darüber hinaus sollen sie den Bürgern einleuchten, und zwar aufgrund des Verfahrens, mittels dessen sie ausgewählt werden. Die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft erkennen an – so der Rawlssche Anspruch –, dass die Zusammenführung des Rationalen und des Vernünftigen im Urzustand auf eine Weise erfolgt, die die ausgewählten Gerechtigkeitsgrundsätze mit guten Gründen rechtfertigt. Sie finden das Prinzip der reinen Verfahrensgerechtigkeit überzeugend und übertragen die Fairness des Verfahrens auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, denen ebenfalls Fairness zugeschrieben wird. Dieses Konzept von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘, das nicht nur die Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze aus dem Urzustand, sondern auch die Rezeption dieser Ableitung sowie ihre Bedeutung in einer wohlgeordneten |14|Gesellschaft und mithin also auch deren drei Öffentlichkeitsbedingungen umfasst, wird von Rawls den real existierenden Menschen real existierender Gesellschaften als ein Identifikationsangebot unterbreitet. Erst hier, auf dieser dritten Ebene, kommt es darauf an, den Anschluss an die Intuitionen der Menschen herzustellen. Eine solche Anschlussfähigkeit bildet für Rawls den eigentlichen Test für die Güte seiner Theorie. Das Kriterium dieses Tests ist, inwiefern das hergestellt werden kann, was Rawls ein „Überlegungsgleichgewicht“ nennt: die Übereinstimmung – nicht der Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern – der Gerechtigkeitskonzeption (!) mit den wohlerwogenen Überzeugungen der Menschen. Erst auf dieser dritten Ebene kommt die gesellschaftspolitische Stoßrichtung des Rawlsschen Ansatzes voll zum Tragen. Gemäß Rawls (1992; S. 264) zielt seine Theoriebildungsstrategie darauf ab, dass ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ „als Grundlage einer informierten und bereitwilligen Übereinkunft zwischen Bürgern dienen kann, die als freie und gleiche betrachtet werden. Wenn sie sicher in den öffentlichen politischen und sozialen Einstellungen verankert ist, stützt diese Übereinkunft die Konzeptionen des Guten aller Personen und Vereinigungen in einem gerechten demokratischen Staat.“ Rawls versteht seine Theorie als einen wissenschaftlichen Beitrag zur politischen Befriedung moderner Gesellschaften, der gewisse bereits vorhandene Elemente öffentlicher Kultur aufnimmt, neu strukturiert und wieder an die demokratische Öffentlichkeit adressiert; als einen Beitrag, der schließlich selbst zum Bestandteil der öffentlichen Kultur wird und hierin eine gesellschaftsstabilisierende Funktion erfüllt. In den Worten von Rawls (1992; S. 265) lautet die Devise seiner kantisch verfahrenden Bemühung um politische Aufklärung: „Das Ziel ist eine freie Übereinkunft, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch. … Solange wir nicht uns selbst dazu bringen zu verstehen, wie dies geschehen könnte, kann es nicht geschehen.“[14]

      4. Gerechtigkeit als Fairness: die zugrundeliegende Zeitdiagnose

      Die bisherige Analyse hat ergeben, wie problemgesteuert die Rawlssche Theoriekomposition ist und dass diese Problemsteuerung sich in besonderem Maße einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verdankt.[15] Vor diesem Hintergrund sind die neueren Schriften von John Rawls gerade deshalb so bedeutend (und folgenreich), |15|weil sie den gesellschaftstheoretischen Problemaufriss seiner Gerechtigkeitskonzeption noch radikaler nuancieren. Neben das Positivsummenparadigma tritt – mit gleichem methodischen Stellenwert! – das ‚Faktum des (vernünftigen) Pluralismus‘, die Einsicht, dass in einer modernen Gesellschaft der Wertekonsens unwiderruflich verloren ist, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt, die sich nicht vernünftig auflösen lassen. Nimmt man dies als eine unhintergehbare gesellschaftliche Bedingung, als eine Restriktion, der die Gesellschaftstheorie prinzipiell nicht entkommen kann, dann stellt sich die Frage, wie unter dieser Bedingung das Programm der Gerechtigkeitstheorie noch zur Geltung kommen kann, das Programm nämlich, für die moderne Demokratie eine Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, anhand deren die Menschen ihre politische (Selbst-)Verständigung entwickeln können; das Programm, einen Basiskonsens zu finden und zu formulieren, der es ermöglicht, die Konflikthaltigkeit der modernen Gesellschaft zu entschärfen und mit dieser Befriedung zugleich die Möglichkeit zu eröffnen, die Politikprobleme konstruktiv anzugehen. Die Antwort, die John Rawls in seinen neueren Schriften auf diese Frage zu geben versucht, besteht in einem radikalisierten Minimalismus, der die inhaltlichen und methodischen Eigenschaften seines Ansatzes noch stärker hervortreten lässt.

      Als Ausgangspunkt seiner neueren Schriften wählt Rawls (1992; S. 298f. und 1993; S. XXII ff.) eine Diagnose der Moderne: Seit der Reformation und der sich an sie anschließenden Religionskriege haben westliche Gesellschaften gelernt, dass ein