Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies

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Название Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор произведения Ingo Pies
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345757



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und Beantwortungsstrategien. Einem solchen Verständnis kann es förderlich sein, auf die jeweilige Problemorientierung zu fokussieren. Aus diesem Grund versuchen die folgenden Ausführungen, einen Überblick über den Ausgangspunkt und die Entwicklung des Williamson-Ansatzes zu geben, über seine Anwendungsbreite und die zugrunde liegende Methode: Sie zielen darauf ab, die Problemorientierung des organisationsökonomischen Forschungsprogramms transparent werden zu lassen.

      |171|1. Die Ausgangslage

      Konfrontiert mit einer Theorie, die die Firma primär als Produktionsfunktion – d.h. unter dem Aspekt einer preistheoretischen Fragestellung – thematisiert, hatte Ronald Coase bereits 1937 darauf aufmerksam gemacht, dass sich die organisationstheoretische Frage nach der Existenz und der Größe einer Firma nicht in Bezug auf die Produktionstechnologie beantworten lasse. Vielmehr seien es Transaktionskosten, die entscheiden, ob es individuell vorteilhaft ist, eine bestimmte Transaktion firmenintern oder über den Markt abzuwickeln. Coase formulierte also einen Wahlhandlungskalkül in bezug auf zwei organisatorische Alternativen, wobei er in der Firma eine Hierarchie mit Anweisungsbefugnis sah und im Markt eine Sphäre prinzipiell gleichrangiger Vertragspartner.[272]

      Dieser Ansatz lässt sich kennzeichnen als ökonomisch, komparativ und – tautologisch. Der Coase-Ansatz ist komparativ, weil er auf den Vergleich relevanter institutioneller Alternativen abstellt. Er ist ökonomisch, weil er diesem Vergleich einen Rationalkalkül unterlegt. Und er ist tautologisch, weil er die Frage nach den Gründen für ein bestimmtes organisatorisches Design – etwa die Frage, warum manche Firmen den Verkauf ihrer Produkte über selbständige Handelsvertreter abwickeln und manche über eine eigene Verkaufsabteilung – stets mit dem Hinweis beantwortet, dass hierfür individuell rationale Kostenüberlegungen verantwortlich sind. Solange dieser Hinweis am Ende der Argumentation steht, handelt es sich um eine Schwäche. Die Tautologie wird erst dann zu einer Stärke, wenn sie am Anfang der Argumentation steht: als Einstieg in ein empirisches Forschungsprogramm, das es erlaubt, die Vor- und Nachteile institutioneller Alternativen zu identifizieren, zu vergleichen und hieraus Hypothesen abzuleiten, die überprüft werden können.

      Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Coase-Aufsatz von 1937 über Jahrzehnte hinweg wie ein erratischer Block aus der Literatur herausragte: Viele sahen hier eine intuitiv eingängliche Idee formuliert. Doch nur wenige konnten damit etwas anfangen. Die Schwierigkeit bestand darin, die Tautologie produktiv zu verorten, sie gleichsam vom Ende an den Anfang der Untersuchung zu stellen, kurz: sie nicht als vollständiges Explanans misszuverstehen, sondern als heuristisch wertvollen Bestandteil eines vollständig allererst zu entwickelnden Explanans aufzufassen – und ferner darin, sich dieser methodologischen Notwendigkeit bewusst zu werden.

      Dass Oliver Williamson genau dies wie keinem anderen gelungen ist, führt er selbst auf die intellektuelle Umgebung zurück, in der er seine akademische Ausbildung genossen hat.

      2. Die Carnegie-Umgebung und das Forschungsprogramm

      Bei der retrospektiven Beschreibung seiner alma mater hebt Williamson drei – für ihn: wegweisende – Charakteristika hervor: eine friedliche Ko-Existenz alternativer Forschungstraditionen; eine strikte Orientierung am Problem, nicht an tradierten |172|Disziplingrenzen; und einen Forschungspragmatismus, der sich nicht an methodologischen Dogmen, sondern an den Erfordernissen des jeweiligen Forschungsproblems orientiert.[273] Durch diese Umgebung fühlt sich Williamson ermutigt, eine organisationstheoretische Integration soziologischer, ökonomischer und juristischer Einsichten anzustreben. Hierbei sieht er sich von vornherein – und bis heute unverändert – in einer vermittelnden Position zwischen extremen Auffassungen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Erstens versucht Williamson eine Überschätzung der Kategorie ökonomischer Rationalität ebenso zu vermeiden wie eine Unterschätzung dieser Kategorie. Er nimmt eine vermittelnde Position zwischen Hyperrationalität und Irrationalität ein, indem er sich das Konzept einer ‚beschränkten Rationalität‘ (bounded rationality) zu eigen macht. Zweitens zieht Williamson nicht die radikale Konsequenz, die Herbert Simon als Vorkämpfer des Konzepts einer ‚bounded rationality‘ bevorzugt, nämlich: den Nutzenmaximierungsansatz zugunsten eines Satisfizierungsansatzes aufzugeben. Auch hier bezieht Williamson wiederum eine eher vermittelnde Position, die am Maximierungsansatz prinzipiell festhält und gegenüber der orthodoxen Ökonomik auf traditionell vernachlässigte Restriktionen hinweist – insbesondere auf zeitliche, informatorische und kognitive Beschränkungen –, die es schwierig und vielfach sogar unmöglich machen, eine mehrperiodige Nutzenmaximierung in einem einzigen Wahlakt vorzunehmen. Hierdurch nimmt Williamson von vornherein eine Prozessperspektive ein. Durch sie wird der orthodox ökonomische Erklärungsansatz für das organisationstheoretische Problem institutioneller Wahl nicht einfach übernommen, sondern adaptiert: Es geht nicht, zeitpunktbezogen, um eine optimale Entscheidung, sondern, zeitraumbezogen, um eine effiziente Anpassung an unvorhergesehene Ereignisse. Es geht um die Wahl einer Interaktionsumwelt, in der man auch morgen noch auf heute unvorhergesehene Ereignisse angemessen reagieren kann. Damit wird – nicht ein Optimierungs-, sondern – ein Anpassungsproblem zum Kernproblem seines theoretischen Ansatzes.

      Die Entwicklung des Forschungsprogramms kann in vier Phasen eingeteilt werden. Jeder dieser Phasen lassen sich zentrale Publikationen Oliver Williamsons zuordnen (Abb. 1). Die Startphase wird 1971 durch einen Aufsatz markiert. Das Buch von 1975 lässt sich als Aufbauphase kennzeichnen, das Buch von 1985 als Konsolidierungsphase, die Aufsatzsammlung von 1996 als Ausreifungsphase. Betrachtet man die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Schriften, treten zwei Kennzeichen deutlich hervor. Erstens erkennt man eine über Jahrzehnte hinweg kontinuierliche Problembearbeitung, die es erlaubt, hier in der Tat von einem Forschungsprogramm zu sprechen: von einer heuristisch angeleiteten Ausarbeitung zentraler Kernideen. Zweitens fällt auf, dass sich das Anwendungsspektrum des Williamson-Ansatzes kontinuierlich erweitert hat, so dass hier in der Tat eine Reihe progressiver Problemverschiebungen stattgefunden hat, in deren Verlauf sich Williamsons Organisationsökonomik ‚imperialistisch‘ entfaltet. Ausgehend vom generischen Problem vertikaler Integration wurde zunächst eine Firmentheorie, sodann eine Theorie wirtschaftlicher Organisationen und schließlich eine allgemeine Theorie institutioneller Governance entwickelt. Dies gilt es nun zu erläutern.

      |173|Abbildung 1:

      Die vier Phasen des organisationsökonomischen Forschungsprogramms

      3. Die Startphase

      In seinem Aufsatz von 1971 stellt Williamson das generische Problem vor, aus dessen Analyse heraus er seinen organisationsökonomischen Ansatz entwickelt. Es handelt sich um das Problem vertikaler Integration: Auf dem Markt für Zwischenprodukte steht jede Firma vor einer ‚Make-or-buy‘-Entscheidung. Soll sie ein Zwischenprodukt von einer anderen Firma fremdbeziehen, oder soll sie dieses Zwischenprodukt selbst herstellen? Vertikale Integration bedeutet, sich gegen einen Kauf und statt dessen zugunsten der firmeninternen Eigenproduktion zu entscheiden.

      Williamsons Analyse des Problems vertikaler Integration weist mehrere Eigenschaften auf, die auch für seine späteren Arbeiten typisch sind. Auf drei sei hier hingewiesen. Erstens greift er ein Thema mit interessanten Politikimplikationen auf. Ob z.B. wettbewerbsrechtlich gegen vertikale Integration vorgegangen werden soll, hängt ganz wesentlich davon ab, welche Erklärung diesem Phänomen zugrunde gelegt wird und welche Folgen diese Erklärung in Aussicht stellt. Zweitens handelt es sich um ein Thema, in Bezug auf das unterschiedliche Theorien konkurrierende Erklärungsansätze vorlegen. Auf der einen Seite wird vertikale Integration auf technologische Faktoren zurückgeführt. Auf der anderen Seite sieht man in vertikaler Integration den Versuch, Marktmacht zu erringen. Diesen beiden Ansätzen stellt Williamson den alternativen Erklärungsansatz gegenüber, vertikale Integration auf den Versuch zurückzuführen, Transaktionskosten einzusparen. Dieses Argument wird, drittens, im Rahmen einer komparativen Black-Box-Analyse entwickelt. Williamson stellt drei Governance-Strukturen gegenüber: einen langfristigen Vertrag, eine Sequenz kurzfristiger Verträge und die Firmenhierarchie. In diesem Rahmen muss man nicht viel über die Firma wissen, um aus etwaigen Schwächen marktlicher Verträge ceteris paribus auf einen relativen Vorteil firmeninterner Transaktionsabwicklung