Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies

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Название Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор произведения Ingo Pies
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345757



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Mancur (1996): Distinguished Lecture on Economics in Government. Big Bills Left on the Sidewalk: Why Some Nations are Rich, and Others Poor, in: Journal of Economic Perspectives 10, S. 3–24.

      Olson, Mancur (2002): Power and Prosperity. Outgrowing Communist and Capitalist Dictatorships, New York.

      Olson, Mancur (2003): Macht und Wohlstand. Kommunistischen und kapitalistischen Diktaturen entwachsen, übersetzt von Gerd Fleischmann, Tübingen.

      Olson, Mancur und Satu Kähkönen (Hrsg.) (2000): A Not-So-Dismal Science. A Broader View of Economics and Societies, Oxford u.a.O.

      Ostrom, Elinor, Roy Gardner und James Walker (1994): Rules, Games, and Common-Pool Resources, Ann Arbor.

      Pies, Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, Tübingen.

      Pies, Ingo (1995): Normative Institutionenökonomik – Zur Problemstellung eines Forschungsprogramms demokratischer Politikberatung, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 44, S. 311–340.

      Sandler, Todd (1991): Collective Action. Theory and Applications, Ann Arbor.

      Suchanek, Andreas (1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.

      SVR (1995): Im Standortwettbewerb. Jahresgutachten 1995/96, hrsg. vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stuttgart.

       [Zum Inhalt]

      |70|Gary Becker (1930–2014)

      „Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ‚Wissenschaft‘.“ Max Weber (1922, 1988; S. 92, H.i.O.)

      „[W]as die Ökonomi[k] als Disziplin von anderen Disziplinen in den Sozialwissenschaften hauptsächlich unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Ansatz.“ Gary S. Becker (1976, 1982; S. 3)

      Gary S. Beckers ökonomischer Imperialismus[93]

      Reduziert man den Begriff „ökonomischer Imperialismus“ nicht von vornherein auf das pejorative (Miss-)Verständnis, mit dem er von manchen geradezu als Schimpfwort verwendet wird, sondern fasst man ihn zunächst einmal auf als eine neutrale Bezeichnung für das Phänomen, dass der ökonomische Ansatz auch auf Probleme angewendet wird, die nicht zum traditionellen Problemkanon der Wirtschaftswissenschaften gehören, dann ist Gary Becker sicherlich der ökonomische Imperialist par excellence. Zur ökonomischen Theorie der Politik und zur ökonomischen Theorie des Rechts hat er frühe und wegweisende Beiträge geliefert, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die ökonomische Theorie der Familie von ihm allererst ins Leben gerufen – bzw. in Anerkennung der klassischen Arbeiten von Malthus: ins Leben zurückgerufen – wurde. Auch die Karriere, die der Rational-Choice-Ansatz in der Soziologie – und, wenn auch zaghaft, sogar in der deutschsprachigen Soziologie – zu machen beginnt, wäre |71|ohne die Pionierarbeiten Gary Beckers schlechterdings nicht denkbar gewesen.[94]

      Üblicherweise wird der ökonomische Imperialismus im allgemeinen und das wissenschaftliche Werk Gary Beckers im besonderen als Ausdehnung des Anwendungsbereichs ökonomischer Analyse aufgefasst, und diese Bereichsausdehnung wird dann regelmäßig als inter-disziplinäre Herausforderung wahrgenommen. Ein typisches Beispiel hierfür bietet die Begründung, mit der der Nobelpreis 1992 an Gary Becker verliehen wurde. In der Pressemitteilung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften heißt es: „Gary Becker’s research contribution consists primarily of having extended the domain of economic theory to aspects of human behavior which had previously been dealt with – if at all – by other social science disciplines such as sociology, demography and criminology.“[95]

      Erst vor einem solchen Hintergrund wird verständlich, warum der ökonomische Imperialismus, dessen Protagonist Gary Becker ist, auf so viel Ablehnung und Widerstand getroffen ist – und immer noch trifft. Hinter der ökonomischen „Bereichs“-Ausdehnung wird die Tendenz vermutet, anderen Wissenschaftsdisziplinen könne bzw. solle „deren“ (sic) „Gebiet“ (sic) streitig gemacht werden. Und in der Tat: Wenn man die Wissenschaftslandschaft mit einer Schrebergartenkolonie gleichsetzt, in der die einzelnen Parzellen den jeweiligen Einzelwissenschaften zur exklusiven Bearbeitung zugewiesen werden, dann muss es notgedrungen schwerfallen, im ökonomischen Imperialismus etwas anderes zu sehen als eine – an sich illegitime – Grenzüberschreitung, d.h. Grenzverletzung. Insofern spielt die pejorative Verwendung des Begriffs „ökonomischer Imperialismus“ nicht nur mit der „Bereichs“-Metapher, sondern sie ist selbst Ausdruck eines Revierverhaltens, das auf eine (vermeintliche) Grenzverletzung reagiert, die man sich als Besatzung, d.h. als Einmischung in fremde Angelegenheiten, verbittet.

      Wie sieht demgegenüber ein konstruktives Verständnis von ökonomischem Imperialismus aus? Im folgenden wird eine Lesart vorgestellt, die das Werk Gary Beckers primär als eine intra-disziplinäre Herausforderung rekonstruiert: Mit Gary Becker ändert sich zunächst einmal das Selbstverständnis von Ökonomik, und erst aufgrund dieses radikal veränderten Selbstverständnisses wird die Möglichkeit sichtbar, dass ein ökonomischer Imperialismus anderen Disziplinen nichts weggnimmt, sondern ihnen etwas zu bieten hat. Aber mehr noch: Bei der Veränderung des Selbstverständnisses von Ökonomik spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Er hat also – was oft übersehen wird – nicht nur eine Außenwirkung, sondern auch eine Binnenwirkung. Er betrifft nicht nur die „benachbarten“ Disziplinen, sondern er hat eine Bedeutung auch – und sogar vor allem – für die eigene, d.h. ökonomische, Disziplin. In Anspielung auf die Einleitungsmotti und als These formuliert: Eine sinnvolle Lösung für das |72|Problem der Inter-Disziplinarität lässt sich erst dann entwickeln, wenn man die intra-disziplinäre Transformation der traditionellen Wirtschaftswissenschaft zum ökonomischen Ansatz angemessen in Rechnung stellt.

      1. Die Entwicklung des Forschungsprogramms zum ökonomischen Ansatz

      Nicht nur die Begründung der Nobelpreisverleihung durch die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften, auch die beiden Laudationes geben einen Überblick über das Werk Gary Beckers. Alle drei Überblicke weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie primär chronologisch vorgehen und die einzelnen Anwendungs-„Bereiche“ vorstellen, auf denen Becker – oft wegweisend – gearbeitet hat. Hierzu zählen – in der Preisbegründung und in der Laudatio von Rosen (1993) – die Humankapitaltheorie, die Familienökonomik sowie die ökonomischen Theorien der Kriminalität und der Diskriminierung, während in der Laudatio von Sandmo (1993) noch zusätzlich Beckers Arbeiten zur Zeitallokation, zur sozialen Interaktion und zur Theorie der Politik genannt werden.

      Demgegenüber ist die folgende Rekonstruktion des Becker-Ansatzes nicht in erster Linie thematisch, sondern systematisch orientiert. Dass sie zur Chronologie weitgehend parallel verläuft, ist ein Reflex des Umstands, dass Becker seine Arbeiten strikt an Problemen ausgerichtet hat, so dass es der Zusammenhang der Probleme ist – und die Theoriestrategie ihrer Bearbeitung –, von der die Entwicklung seines Forschungsprogramms ihre Kohärenz bezieht. Als These formuliert: Die Entwicklungslogik des Forschungsprogramms gelangt erst dann ins Blickfeld, wenn man nicht nach den Bereichen, sondern nach den Problemen fragt, auf die Becker seinen ökonomischen Ansatz anwendet – präziser: aus deren Bearbeitung Beckers ökonomischer Ansatz allererst hervorgeht und allmählich jene Gestalt gewinnt, in der er heute als primär intra-disziplinäre Herausforderung der traditionellen Ökonomik und als erst sekundär inter-disziplinäre Herausforderung der Sozialwissenschaften vorliegt.

      (1) Mitte der 1950er Jahre sieht sich Becker mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Preistheorie konfrontiert, die streng trennt zwischen Haushalten und Firmen und damit auf einer kategorialen Unterscheidung