Einführung Ernährungspsychologie. Johann Christoph Klotter

Читать онлайн.
Название Einführung Ernährungspsychologie
Автор произведения Johann Christoph Klotter
Жанр Документальная литература
Серия PsychoMed compact
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846355282



Скачать книгу

durch körperliche Faktoren verursacht seien. Vielmehr könnten psychische Konflikte zu körperlichen Erkrankungen führen.

      Der Terminus „Psychosomatik“ setzt sich aus zwei griechischen Begriffen zusammen: „Psyche“ ist die Seele und „Soma“ ist der Körper. Die klassische Psychosomatik geht von einem unilinearen Prozess aus: Aus seelischen Konflikten entstehen körperliche Symptome. Sie untersuchte nicht den umgekehrten Zusammenhang, dass nämlich auch aus körperlichen Erkrankungen psychische Probleme entstehen können. Oder allgemeiner noch, dass Psyche und Körper in komplexer Wechselwirkung zueinander stehen.

      Freud und die Hysterie

      Die Geschichte der Psychosomatik ist untrennbar mit dem Begründer der Psychoanalyse verbunden, mit Sigmund Freud. Er entwickelte die erste bedeutsame psychosomatische Theorie. Nachdem er viele Jahre lang naturwissenschaftlich gearbeitet hatte, konfrontierte er sich mit einer „Modeerkrankung“ des 19. Jahrhunderts: der Hysterie. Diese erschien ihm nicht naturwissenschaftlich erforschbar zu sein. Im Rahmen eines psychotherapeutischen Gesprächs versuchte er, die seelischen Ursachen der Hysterie zu erkunden. Psychologische Labor-experimente dienen dazu, Ursache-Wirkungs-Gefüge, also all-gemeine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, die alle Menschen betreffen, zu ergründen. Das psychotherapeutische Gespräch diente Freud dagegen dazu, die individuell spezifischen unbewussten Ursachen der Hysterie bewusst zu machen und zur Sprache zu bringen.

      Der noch relativ junge Freud macht einen Ausflug in die Hohen Tauern, „um für eine Weile die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen.“ (Freud 1999a, 184) Dies sollte ihm nicht gelingen. Eine junge Frau, Katharina, bittet um seine Hilfe, da sie „nervenkrank“ sei. Nervenkrank bedeutet für sie Atemnot, Druck auf den Augen, ein schwerer und sausender Kopf, Schwindel, zusammengepresste Brust und zusammengepresster Hals, verbunden mit Todesangst. Katharina hat keine Ahnung, warum sie ihrer Meinung nach nervenkrank ist. In einem relativ kurzen Gespräch gelingt es den beiden, die unbewussten Motive der Nervenkrankheit bewusst zu machen. Eines davon ist der massive Ekel angesichts der versuchten sexuellen Übergriffe ihres Vaters. Aber warum hat Katharina diesen Ekel verdrängt? Eine Antwort könnte sein, dass ihr der Gedanke, dass ihr Vater ihr gegenüber sexuell übergriffig werden wollte, unerträglich war. Sie musste diesen Gedanken und die damit verbundenen Gefühle abwehren. Anstelle dieser Gefühle und Gedanken entstanden körperliche Beschwerden. Katharina war es sozusagen lieber, körperlich zu leiden, als mit unerträglichen Gefühlen und Gedanken konfrontiert zu sein.

      Freud ging davon aus, dass der hysterischen Symptomatik entweder wie bei Katharina sexuelle Traumata oder unakzeptable Liebesregungen zugrunde liegen. In der Zeit Freuds war es z. B. für ein Hausmädchen moralisch unakzeptabel, sich in den Hausherrn zu verlieben. Da wir heute andere Moralvorstellungen haben, würde dieses Hausmädchen heutzutage vermutlich keine körperliche Symptomatik entwickeln.

      sinnvolle Symptome

      Die körperlichen Leiden bei der Hysterie sind für Freud alles andere als zufällig. Sie sind stets sinnvoll und damit auch dechiffrierbar. Man muss nur den verborgenen Sinn erkennen. Psychotherapeutische Arbeit erscheint in dieser Hinsicht dann als ein Indizienprozess. Anders als seine Nachfolger beschränkte Freud den Umschlag von seelischen in körperliche Symptome auf den sensomotorischen Bereich. So waren für Freud nur Störungen im Bereich der Sinne wie Taubheit, Blindheit oder der Motorik, wie z. B. Lähmungen, hysterische Symptome. Er ging außerdem davon aus, dass es zur Herausbildung hysterischer Symptome eines organischen Entgegenkommens bedarf, also einer bestimmten Organschwäche. Trotz dieser bleibt für Freud ein unilinearer Zusammenhang bestehen: Aus seelischen Konflikten erwachsen körperliche Symptome. Freud nannte dies Konversion.

      Gespräch vs. Labor

      Um es nochmals herauszustellen: Dieser Umschlag vom Psychischen ins Körperliche lässt sich im psychotherapeutischen Gespräch nur rekonstruieren. Er lässt sich alleine aus ethischen Gründen in einem Laborexperiment nicht erfassen. Angenommen, man wolle ungeachtet schwerwiegender ethischer Bedenken im Rahmen eines Laborexperiments Wirkungen sexueller Übergriffigkeit überprüfen, so könnten z. B. nur unmittelbare Wirkungen dokumentiert werden, aber nicht Reaktionen wie die von Katharina, die sich erst ein paar Tage später einstellen.

      Einzigartigkeit

      Freud hat zwar ein allgemeines Modell der Hysterie entwickelt. Zugleich hat er betont, dass jede Hysterie einzigartig ist – verbunden mit einer spezifischen Biografie und spezifischen Ursachen. Das bedeutet, dass jeder Hysteriekranke anders ist. Von hysterischen Symptomen lässt sich im Sinne Freuds allgemein auf sexuelle Ursachen oder Traumata schließen. Aber diese sind von Fall zu Fall völlig unterschiedlich.

      Kasten 2.1: Tabus: Sex oder Essen?

      Hätte Freud in unserer Zeit gelebt, dann hätte er sich vermutlich den „Modeerkrankungen“ unserer Zeit zugewandt, nämlich den Essstörungen. Zu Zeiten Freuds wurde die Sexualität eher problematisiert und tabuiert. Dies lässt sich etwa daran erkennen, dass Freud bestimmte sexuelle Praktiken ins Lateinische übersetzt. Diese Problematisierung und die im Vergleich zu heute wesentlich strengeren Moralvorstellungen begünstigten die starke Verbreitung der Hysterie. Heutzutage ist zumindest dem Anschein nach die Sexualität aus ihrem moralischen Korsett befreit. Nahezu alle Formen der Sexualität sind heute akzeptiert und gesellschaftsfähig. Dementsprechend ist die klassische Hysterie nahezu ausgestorben. Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa hingegen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dies liegt u. a. daran, dass heutzutage die Nahrungsaufnahme massiv problematisiert wird (Klotter 1990). Die Nahrungsaufnahme ist heute sozusagen verboten. Aufgrund des in den letzten hundert Jahren stetig sinkenden Normgewichts erscheint nun im Prinzip jede Form und jedes Quantum an Nahrungsaufnahme als eine Gefährdung des Einhaltens oder Erreichens des Normgewichts.

images

      Die klassische psychosomatische Fragestellung, inwieweit Seelisches auf den Körper einwirkt, wird auch heute noch gestellt und erforscht. Macht et al. (2002) untersuchten in einem Experiment beispielsweise, ob unterschiedliche Emotionen den Konsum von Schokolade beeinflussen. Sie fanden heraus, dass Freude den Schokoladenkonsum ansteigen lässt, Ärger hingegen zu einem verminderten Verzehr führt. Festzuhalten ist, dass Emotionen das Essverhalten beeinflussen (Mensorio et al. 2016; Koski/Naukkarinen 2017).

      Krankheit entziffern

      Freuds Psychosomatik: Freud entwickelte die erste psychosomatische Theorie, der zahlreiche weitere folgen sollten. Wie auch immer seine psychosomatische Theorie heute beurteilt wird, sie gab den Anstoß zu der offenbar faszinierenden Frage, ob körperliche Erkrankungen seelische Ursachen haben können. Mit Freud ist die Idee aufgekommen, den Körper zu dechiffrieren: Sage mir, welche körperliche Erkrankung Du hast, dann sage ich Dir, welche psychische Störung Du besitzt. So faszinierend diese Frage auch ist, so problematisch kann sie sein. Genauso wie eine rein naturwissenschaftliche Medizin Gefahr läuft, psychosoziale Faktoren hinsichtlich der Krankheitsentstehung und des Krankheitsverlaufs zu vernachlässigen, so kann ein psychosomatischer Ansatz davon bedroht sein, den Körper quasi zu vergessen. Die Eigengesetzlichkeit körperlicher Prozesse oder genetischer Einflüsse wird so außer Acht gelassen.

      Wenn man z. B. Adipositas stets als psychisch verursacht ansieht, dann ignoriert man, dass in bestimmten Kulturen oder Ländern Adipositas das Schönheitsideal darstellt. Man ignoriert, dass Menschen, da sie das Essen genießen, übergewichtig werden. Man ignoriert, dass empirische Studien nicht hinreichend belegen können, dass adipöse Menschen generell psychisch stärker gestört sind als nicht adipöse (Sabbioni 2003). Und selbst wenn Adipositas psychisch verursacht sein sollte, dann gibt es nicht die eine psychische Ursache, die zu Adipositas führt, sondern die unterschiedlichsten in den unterschiedlichsten Kombinationen und Ausprägungen.