Einführung Ernährungspsychologie. Johann Christoph Klotter

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Название Einführung Ernährungspsychologie
Автор произведения Johann Christoph Klotter
Жанр Документальная литература
Серия PsychoMed compact
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846355282



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körperlicher Vorgänge begreifen (Barlösius 2011). Würde z. B. in allen menschlichen Kulturen morgens, mittags und abends nur Kuchen gegessen werden, dann würden die Vertreter des biokulturellen Modells behaupten, dass der Körper des Menschen mit ausschließlichem Kuchenkonsum ernährungsphysiologisch am besten versorgt sei.

      Barlösius (2011; u. a. im Anschluss an Eder 1988, 103ff) unterscheidet unter Ausschließung des biokulturellen Ansatzes folgende soziologische Modelle. Alle versuchen zu erklären, warum in bestimmten Gesellschaften Nahrungstabus bestehen:

      ● Das rationalistische Modell: Repräsentant hierfür ist Harris (1988). Harris geht davon aus, dass sich für jedes Nahrungstabu rationale Gründe finden lassen: Tabus garantieren das nutritive Überleben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.

      ● Diesem Ansatz gegenüber steht das funktionalistische Modell, das Nahrungstabus auf die Stabilisierung einer bestehenden Ordnung zurückführt. Mit Nahrungstabus stärkt eine Gesellschaft ihre eigene Identität und grenzt sich von anderen Gesellschaften ab. Das funktionalistische Modell geht also davon aus, dass Tabus auf mehr fußen als nur auf einer rationalen Ökonomie. Tabus können eine Gesellschaft zusammenhalten.

      ● Das strukturalistische Modell setzt die Kultur vor die Natur. Denn die Natur muss zuerst symbolisch konstituiert werden, um sie begreifen zu können. Die Natur erschließt sich entsprechend dieses Modells nicht unmittelbar. Sie bedarf der Sprache, um zugänglich zu werden. Eine dieser Sprachen ist die Küche. Die Küche dient nach Lévi-Strauss (1976) zusätzlich dazu, die menschlichen Grundkategorien Natur und Kultur zu vermitteln. Der strukturalistische Ansatz untersucht außerdem die Küche, um herauszufinden, welche kognitive Ordnung eine Gesellschaft sich gibt. Der Strukturalismus sucht wie ein Detektiv in der Küche die Logik einer Gemeinschaft.

      ● Das Modell des Paradoxes der doppelten Zugehörigkeit: Der Mensch als Allesesser kann sich frei entscheiden, was er essen will. Das ist seine kulturelle Freiheit. Tiere könnten hingegen in der Regel nicht frei entscheiden, was sie essen wollen. Ihnen geben die Instinkte vor, was sie an Nahrung zu sich nehmen können. Menschen in ihrer kulturellen Freiheit könnten allerdings die Natur nicht vergessen. Würde sich ein Mensch nur von Kuchen ernähren, was seine Freiheit beinhaltet, würde er sich massiv mangelernähren. Die Natur fordert also ihre Rechte. Deshalb befindet sich der Mensch im Widerspruch oder Paradox zwischen Freiheit und Zwang.

      unterschiedliche Interpretationen

      Die von Barlösius angebotenen soziologischen Modelle der Ernährung widersprechen sich offenkundig. Es ist zu vermuten, dass die Diskussion nicht mit der Aussage beendet werden kann: Das eine Modell ist richtig, das andere Modell ist falsch. Vielmehr bleiben sie Interpretationsfolien oder Perspektiven, die je nach konkretem Forschungsgegenstand brauchbarer oder unbrauchbarer sind. Möglicherweise lassen sie sich auch parallel gebrauchen: Wenn die Kuh in Indien nicht geschlachtet werden darf, so mag dies im Sinne von Harris rationale Gründe haben, dieses Tabu kann im Sinne des funktionalistischen Modells auch identitätsstiftend sein.

      Nicht nur physiologische Prozesse regulieren die Nahrungsaufnahme. Es reicht aber auch nicht aus, den physiologischen Steuerungen nur psychische Variablen hinzuzufügen. Vielmehr beeinflussen gesellschaftlich-kulturelle und soziale Faktoren das Essverhalten erheblich. Dies sollte in diesem Kapitel veranschaulicht werden. Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten des Essverhaltens sind dem Bewusstsein wenig zugänglich, da sie wie selbstverständlich existieren. So muss erst gründlich reflektiert werden, dass die derzeitige Versorgung mit Lebensmitteln in Anbetracht der Menschheitsgeschichte einem Paradies gleichkommt.

      Auch der Streit am Mittagstisch, ob eine Fleischbeigabe überhaupt notwendig ist, hat historische Wurzeln. Am Mittagstisch treffen so die „barbarische“ Tradition (möglichst viel Fleisch essen) mit dem römisch-christlichen Erbe eventuell konflikthaft aufeinander. Ebenfalls kulturell überformt ist die Lebensmittelpräferenz. In unseren Breitengraden essen wir nicht gerne Heuschrecken, und wir verspeisen auch keine süßen kleinen Katzen.

      Dass Lebensmittel nicht nur Mittel zum Zweck sind, um zu überleben, belegt die Nutzung von Speisen, um sich von anderen zu unterscheiden. Nahrungsaufnahme ist ein Mittel der sozialen Distinktion. Die Geschichte lehrt, dass Essen oder bestimmte Lebensmittel häufig dafür eingesetzt wurden, um Macht und Reichtum zu demonstrieren. Auch heute noch lässt sich am Verzehr bestimmter Lebensmittel der soziale Status ablesen. Mit finanziellen Mitteln aus Harz IV lassen sich Hummer und Trüffel schwerlich bezahlen.

      Nicht einmal Essstörungen sind frei von historischen und kulturellen Einflüssen. In einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit gilt Wohlbeleibtheit als Ausdruck von Macht und Ansehen. In einer anderen Kultur in anderen Zeiten ist sie als Krankheit etikettiert und verpönt.

      Im Alltagsbewusstsein ist es nicht deutlich verankert, wie stark soziale Faktoren die Gesundheit und die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Wer eine gute Ausbildung, ein gutes finanzielles Auskommen und einen interessanten Beruf hat, ist deutlich gesünder und lebt länger. Die Kluft zwischen arm und reich wird derzeit nicht kleiner, sondern größer. Die Qualität der Herkunftsfamilie und der elterliche Erziehungsstil spielen eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung von gesunder oder ungesunder Ernährungsweise. Was und wie gegessen wird, ist nicht nur individuelle Wahl oder reiner Zufall. Vielmehr repräsentieren und konstruieren die Art der Nahrungsaufnahme und die Küche eine soziale Ordnung.

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      Überprüfen Sie Ihr Wissen!

      1. Welche historischen Traditionen bestimmen die heutige Nahrungsaufnahme?

      2. Welche Theorien bietet die Soziologie an, um Lebensmittelpräferenzen zu erklären?

      3. Was bedeutet der Begriff der sozialen Distinktion?

      4. Wie beeinflusst die Sozialisation das Essverhalten?

      5. Wie werden die Definition und die Verbreitung von Essstörungen durch gesellschaftliche Einflüsse mitbestimmt?

      2 Psyche, Soma und die Nahrungsaufnahme

      Psychosomatik vs. Medizin

      Die Frage: „Wie beeinflusst die Psyche die Nahrungsaufnahme“ wird nicht erst heute gestellt. Diese Frage rührt aus der Tradition der Psychosomatik, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Die als Gegenbewegung zur ausschließlich naturwissenschaftlichen Medizin konzipierte Psychosomatik bremste einerseits also eine Entwicklung, die Krankheit auf körperliche Prozesse reduzieren wollte. Sie lief und läuft andererseits Gefahr, in einen Pan-Psychologismus zu verfallen. Das meint, dass der Versuch unternommen wird, alle körperlichen Prozesse, so auch Krankheiten, auf die Psyche zurückzuführen.

      bio-psycho-sozial

      Der einfachen Frage nach dem Einfluss der Psyche auf den Körper wurde im 20. Jahrhundert die Frage hinzugefügt: Wie wirkt der Körper auf die Seele? Bezogen auf die Nahrungsaufnahme, bedeutet dies: Wie wirkt sich die Nahrungsaufnahme auf die Psyche aus? Die psychosomatische und die somatopsychische Fragestellung wurden anschließend in das umfassende biopsycho-soziale Gesundheits- und Krankheitsmodell integriert. Umfassend bedeutet hier, dass die sozialen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit mit einbezogen werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich neben der Psychosomatik die Verhaltensmedizin etabliert. Diese basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell, bearbeitet ähnliche Fragestellungen wie die Psychosomatik. Sie grenzt sich aber von der Psychosomatik ab, da sie nicht psychoanalytisch, sondern verhaltenstherapeutisch orientiert ist.

      Als sich im 19. Jahrhundert allmählich die naturwissenschaftliche Medizin durchsetzte, etablierte sich parallel dazu die Psychosomatik – als Gegenbewegung zur naturwissenschaftlichen Medizin. Gelang es der naturwissenschaftlichen Medizin immer besser, zahlreiche Erkrankungen als rein biologische