Название | Einführung Gerontopsychologie |
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Автор произведения | Ben Godde |
Жанр | Документальная литература |
Серия | PsychoMed compact |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846345672 |
Mehrdirektionalität
Lange Zeit wurde Altern als ein eher eindimensionales Phänomen des biologischen Abbaus betrachtet. Die unterschiedlichen Alternsdimensionen weisen aber durchaus unterschiedliche Verläufe auf. So zeigen viele biologische Funktionen absteigende Verläufe, wohingegen zum Beispiel manche Persönlichkeitsmerkmale, soziale Kompetenz oder auch Erfahrung positive Verläufe oder Stabilität aufweisen. Anstatt früherer, eher defizitorientierter Sichtweisen, dominieren deshalb heute differenziertere Annahmen zur Multidimensionalität und Multidirektionalität der menschlichen Entwicklung. Diese betonen, dass die menschliche Entwicklung zu jedem Alter durch Gewinne und Verluste gekennzeichnet ist. Nach Baltes (1987) verändert sich allerdings mit zunehmendem Alter das Verhältnis zwischen beiden zu Ungunsten der Gewinne.
Die Multidirektionalität und -dimensionalität des Alterns kann am Beispiel der Kognition verdeutlicht werden. Wie in Kapitel 6 dargestellt ist, lassen sich für verschiedene Dimensionen der Kognition unterschiedliche Entwicklungsverläufe beschreiben, die entweder durch einen Abbau im Alter (z. B. Verarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis) oder durch Stabilität und Zuwachs (z. B. sprachliche Fertigkeiten, Wissen) gekennzeichnet sein können.
Variabilität
Altern und Entwicklung weisen aber nicht nur ein hohes Maß an Multidimensionalität und Multidirektionalität auf, sondern auch eine große Variabilität. Diese kennzeichnet das Ausmaß, in dem die Leistung oder andere Merkmale eines Einzelnen oder einer Gruppe stabil sind. Die Differenzierung unterschiedlicher Lebensverläufe und die damit im Zusammenhang stehende Verschiedenheit von Fähigkeiten bei älteren Menschen sind in unserer alternden Gesellschaft von hoher Bedeutung. Diese Variabilität im Alter und die damit im Zusammenhang stehenden positiven oder negativen Veränderungen in den individuellen Fähigkeiten bergen auch individuelle Entwicklungspotenziale. Variabilität liegt aber nicht nur zwischen verschiedenen Personen vor (interindividuelle Variabilität), sondern auch zwischen und innerhalb von einzelnen Funktionsbereichen einer Person (intraindividuelle Variabilität).
Interindividuelle Variabilität (Diversität) spiegelt Unterschiede zwischen Personen wider. Intraindividuelle Variabilität bezeichnet Unterschiede innerhalb einer Person in unterschiedlichen Dimensionen oder Facetten (Dispersion) oder innerhalb einer Dimension zu verschiedenen Zeitpunkten (Inkonsistenz) (Bunce et al., 2004).
Auch Entwicklungsverläufe zeigen eine hohe interindividuelle Variabilität. So bleibt die kognitive Leistungsfähigkeit bei manchen Menschen bis ins hohe Alter stabil oder nimmt sogar noch zu, während sie bei anderen nach einem Höhepunkt im jungen Erwachsenenalter stetig abnimmt. Abbildung 1.2 zeigt beispielhaft, anhand der Daten der Seattle Longitudinal Study zum kognitiven Altern (Schaie, 2005), dass auch im hohen Alter von über 80 Jahren die Hälfte der Teilnehmer und Teilnehmerinnen noch Stabilität oder sogar Zugewinne in der Leistungsfähigkeit aufweisen.
Abb. 1.2: Anteil von untersuchten Personen, die entweder Stabilität, Abbau oder Zuwachs in kognitiver Leistung über einen Zeitraum von sieben Jahren zeigten (nach Schaie, 2005).
Die Betrachtung der intraindividuellen Variabilität gewinnt vor allem in der neurokognitiven Altersforschung zunehmend an Bedeutung, da die kognitive Leistung älterer Erwachsener häufig eine höhere Inkonsistenz aufweist als die jüngerer Personen und dies mit kognitiven Leistungseinbußen einher geht (MacDonald et al., 2003).
1.2 Zusammenfassung
Entwicklung und Altern sind lebenslange Prozesse, wobei Altern selbst als Entwicklungsprozess angesehen wird. Das Alter besteht neben dem kalendarischen oder chronologischen Alter aus vielen weiteren Facetten, wie dem biologischen Alter, dem psychologischen Alter, dem sozialen Alter oder dem subjektiven Alter, die innerhalb eines Individuums sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Der Alternsprozess wird durch die Wechselwirkung von internen Faktoren (z. B. Genetik, Biologie), Verhaltensweisen und Lebensstilen (z. B. Ernährung, Aktivität, Beruf) und externen Faktoren (soziales Umfeld, sozioökonomischer Status) bestimmt. Dieser Prozess ist multidimensional, multidirektional, variabel und plastisch, d. h. beeinflussbar.
1.3 Fragen zum Kapitel
1. Wie wird Alter und Altern aus der traditionellen biologischen Perspektive verstanden?
2. Wie wird Alter und Altern aus der Perspektive der Lebensspannenpsychologie verstanden?
3. Welche Faktoren beeinflussen den individuellen Altersverlauf?
4. Was unterscheidet „Alter“ von „Altern“?
5. Was ist primäres und sekundäres Altern?
6. Worum geht es bei der „Nature-Nurture-Debatte?
7. Was versteht man unter der Multidimensionalität des Alters?
8. Was versteht man unter der Multidirektionalität des Alters?
9. Welche Arten der Variabilität von Altersverläufen gibt es?
2 Theorien des Alterns
Im folgenden Kapitel wird Altern aus Sicht der Biologie und der Psychologie dargestellt. Auf soziale und soziologische Theorien des Alterns sei hingewiesen (Bengtson, 2008). Diese werden aber aufgrund des biologisch-psychologisch orientierten Ansatzes dieses Buches nicht besprochen.
Im Sinne der Biogerontologie wird der Alternsprozess als die Summe an Veränderungen definiert, die zu einem Funktionsverlust von Zellen, Geweben und Organen und in letzter Konsequenz zum Tod führen (Hayflick, 2007). Biologisches Altern wird somit als ein Abbauprozess Altern als Abbauprozess verstanden, der mit dem Abschluss der ontogenetischen Entwicklung (oder Maturation) beginnt und zwangsläufig und irreversibel ist.
Altern als Entwicklungsprozess
Psychologische Theorien beschäftigen sich dagegen vor allem mit Veränderungen von Kompetenzen im physischen, psychischen und sozialen Bereich über die gesamte Lebensspanne. Dabei wird auch das Altern als Entwicklungsprozess aufgefasst, der je nach Betrachtungsebene multidirektional und multidimensional verläuft und durch positive und negative Veränderungen (Plastizität) gekennzeichnet ist (Kapitel 1).
Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen schließen sich keineswegs gegenseitig aus, sondern beschreiben jeweils unterschiedliche Schwerpunkte in der Betrachtung des Entwicklungs- bzw. Alternsprozesses.
2.1 Altern aus Sicht der Biologie
Wann beginnt das biologische Altern?
Maturation, Reproduktion und Altern
Im Rahmen biologischer Alternstheorien werden hauptsächlich drei Lebensphasen unterschieden: Während der Kindheits- und Jugendentwicklung (Ontogenie) werden Veränderungen im Sinne von Wachstums- und Reifungsprozessen (Maturation) interpretiert, die der Ausbildung und Perfektionierung von körperlichen Funktionen dienen. In dieser Phase werden Veränderungen also positiv gedeutet. Daran schließt sich eine Phase der Stabilität und Reproduktion an, die als adulte Form bezeichnet wird und im Vergleich zu den anderen beiden Phasen nur wenige Jahre andauert.
Bereits im Alter von 25 – 30 Jahren folgt die sogenannte Postentwicklungsphase (Postontogenie). In dieser Phase, so die Annahme, sind (biologische) Wachstums- und Entwicklungsprozesse abgeschlossen und das biologische Altern beginnt. Altern wird damit eindeutig von Entwicklung und Lernen abgegrenzt, wie es im Rahmen von psychologischen Alterstheorien (Kapitel 6: Psychologisches Altern) diskutiert