Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Название Am Ende des Schattens
Автор произведения Andreas Höll
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963115929



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die Bauarbeiter in voller Absicht hatten liegen lassen. Plötzlich wurde es ganz still, und er spürte jenes Vibrieren in der Lendengegend, das Angst und Lust verheißt. Der Kitzel schien ihm Konturen zu verleihen, die bislang verborgen geblieben waren. Er fühlte seinen Brustkorb anschwellen, den Rücken breiter werden, fühlte den Nacken, wo Nervenstränge hervortraten. Er zog ihn ein, als erwarte er einen Hieb, spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn, wenn sich der Körper gegen die Auslöschung aufbäumt und sich gegen fremde Kräfte stemmt, die im Kopf schon zu wirken beginnen. Und dann hörte er das Sirren einer Kugel, die knapp an seiner Schläfe vorbeistrich. Er warf sich auf den Boden, rappelte sich auf und konnte sich im Kugelhagel in einen Hinterhof retten, wenn Rettung auch bedeutet, dass man in einer Ecke mit einer Eisenstange niedergeschlagen wird und bewusstlos liegen bleibt, bis der Schmerz sich meldet, sobald man erwacht. Später gelang es ihm, sich in die Notaufnahme zu schleppen. Zum Glück, sagte der diensthabende Arzt, habe er einen Dickschädel und eine Konstitution wie ein Pferd.

      Der Zwischenfall hatte ihn nicht davon abgehalten, einen zweiseitigen Artikel mit einzigartigen Fotos von der Bürgerkriegsfront zu publizieren, der auch in anderen englischen Zeitungen nachgedruckt wurde. Der Chef vom Dienst hatte ihn eigens angerufen und zu der Reportage gratuliert. Es galt nun, die Geschichte weiterzudrehen. Vielleicht könnte Professor Borsig helfen. Er kannte den Pathologen, einen profunden Gin-Trinker und Liebhaber alles Britischen, aus der Bristol Bar. Der war sichtlich bemüht, seine Freude über Dolphins Anruf zu dämpfen, und brummte, er habe etwas für ihn, um der Story, und hier ließ er ein fast akzentfreies Oxford English hören, den nötigen background zu verschaffen. Die letzte Straßenschlacht hätte ihm jedenfalls neue Kundschaft beschert.

      Als er die Leichenhalle im Neuköllner Bezirkskrankenhaus betrat, winkte der Professor ihn herbei. Dann schlug er die Decke um und enthüllte einen grauenhaft zugerichteten Körper. Dolphin spürte, wie sein Gegenüber ihn beobachtete. Er musste sich beherrschen, als er ein amüsiertes Zucken der Mundwinkel zu sehen glaubte, und rettete sich mit der Frage, wie es passiert sei.

      Borsig erklärte in leierndem Tonfall, der Nachwuchskommunist sei auf dem Nachhauseweg zunächst mit einem Faustschlag gegen das Kinn niedergestreckt worden, rückwärts auf das Straßenpflaster gefallen, vom Angreifer mehrfach mit den Stiefeln ins Gesicht getreten, dann in Hüfthöhe wiederholt aufgehoben und fallen gelassen worden. Das ergäbe das typische Bild: schwere Schürfungen am Unterkieferwinkel und am Hinterhaupt mit Blutunterlaufung in der Hirnschwarte, dazu grobfleckige und flächig angeordnete Hämatome, die für Faustschläge und Tritte mit dem beschuhten Fuß sprächen.

      Dolphin musste sich zwingen, die Leica hervorzuholen, um das zerstörte Antlitz zu fotografieren. Borsig kam langsam in Fahrt. Die Aussicht, in der meistgelesenen Zeitung des Empire zitiert zu werden, schien ihn zu beflügeln. Er zog die nächste Decke beiseite. »Oder hier, ein SA-Mann im gleichen Alter«, kommentierte er, und bei diesem Anblick musste Dolphin sich abwenden, »ein typischer Fall von Enthirnung samt scharnierartigem Aufklaffen des Schädels in der Bruchlinie.«

      Er verspürte einen Brechreiz. Der Pathologe musterte ihn. Es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen, was Borsig nicht entgangen war. Auf seinen knappen Dank hin erwiderte der Professor: »Das kostet Sie einen Tanqueray.«

      Als er im Freien war, ließ Dolphin sich auf eine Bank sinken und zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte lange, seine gewölbte Hand vermochte die Flamme nicht vor dem Wind zu schützen, mehrere Versuche schlugen fehl, sodass er schon aufgeben wollte. Als er schließlich das Nikotin einsog, war der Ekel einer tiefen Traurigkeit gewichen. Was sollte er noch tun, um den Lord umzustimmen? Die Zentralredaktion, das wusste er, war von der Qualität des Berliner Büroleiters überzeugt. Konnte der Verleger nicht begreifen, dass er keine Karriere in London anstrebte?

      Es kam ihm vor, als ob er das zweite Mal aus seiner Geburtsstadt vertrieben wurde, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Gegen Ende des Kriegs hatte er sich nach dem fremden England und seiner unfassbaren Zivilität gesehnt. Doch dieses Mal war er kein Jugendlicher mehr, sondern ein gestandener Reporter, der in der aufregendsten Metropole Europas, wenn nicht der ganzen Welt, arbeitete. Vielleicht fühlten Kriegsberichterstatter wie er, wenn er in seiner Kampfmontur ins Ungewisse aufbrach. Diese seltsame Mischung aus Erregung und Bedrohung. Wenn er sich dann im Getümmel befand, zog sich in seinem Kopf ein dunkler Raum zusammen, zu einem Netz aus Farben, Schreien, Schüssen, Schweiß, Blut, es war, als würde das eigene Ich sich auflösen und in Wellen wilder Euphorie treiben. Doch wenn er es recht bedachte, waren es nicht nur die Gefahren des Straßenkampfes, die ihn mitrissen, sondern die immer neuen Geschichten, die diese Stadt hervorbrachte. Die Tatsache, dass er seine Reportagen für eine britische Zeitung schrieb, schärfte sein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der deutschen Hauptstadt. Sie injizierte eine Energie in seinen Körper, die kein Benzedrin mobilisieren konnte. So staunte er selbst darüber, dass er, wann immer es ging, sein Rudertraining auf dem Wannsee absolvierte. Neulich hatte er sogar einen Boxclub aufgesucht, um wie in Studententagen den Sandsack mit einer Kombination aus Jab und Uppercut zu traktieren, und wie damals floss der Schweiß über seine behaarte Brust, in der sich die Silberkette verfangen hatte. Sie glitzerte rhythmisch im Scheinwerferlicht, als sende sie Morsezeichen.

      Ohne Zweifel befand er sich hier am richtigen Ort zur richtigen Zeit, ob er sich nun in spektakuläre Betrugsprozesse vertiefte oder den Forschungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts auf der Spur war. Seine Neugierde trieb ihn voran, und er war fest entschlossen, diese atemlose Epoche in einem Buch zu verewigen, das er für sich das Berlin-Buch nannte.

      Als er in das Büro kam, beauftragte er seine Sekretärin, den Film entwickeln zu lassen. Und nachdem er telefonisch weitere Auskünfte von einem Polizeispitzel, der ebenfalls auf seiner Gehaltsliste stand, und einem Informanten aus dem Innenministerium eingeholt hatte, setzte er sich an die Schreibmaschine und begann verschiedene Anfänge auszuprobieren, um nicht nur die britschen Leser, sondern auch den Herausgeber vom ersten Satz an zu fesseln.

      Stunden später goss er sich ein Glas Whisky ein und schaute in die Nacht hinaus. Alles war dunkel, nur die Schreibtischlampe brannte. Er hatte gerade erst seinen Artikel nach London durchgegeben und im Anschluss wieder versucht, den Verleger zu erreichen. Es sei sehr dringend, sagte er dessen Privatsekretär. Doch offenbar war die Sache für den Lord längst erledigt. Aus Ärger schüttete er den Whisky in den Papierkorb, wo sich dunkle Lachen auf dem zusammengeknüllten Manuskriptpapier bildeten.

      Er überlegte, Ella anzurufen. Dann fiel sein Blick auf die Einladungskarten, die er Woche für Woche um den Fuß der Schreibtischlampe gruppierte. Botschaften luden ein, Indus-trieverbände, Parteien, Sportveranstalter oder Börsenspekulanten. Dolphin sortierte sie nach Wochentagen, und siehe da, heute hatte der Finanzmagnat Hugo von Ernst geladen.

      Einen Moment lang dachte er daran, einfach bei Ella vorbeizufahren und sie zu überraschen, doch sie würde sowieso ablehnen. Festivitäten dieser Extravaganz, das wusste er, kamen auf keinen Fall infrage. Egal, was er tun würde, sie wäre verstimmt. Schließlich verschwand er im Badezimmer, wo neben der Dusche auch ein Kleiderschrank Platz fand. Nachdem er die Haare gekämmt, mit einem Hauch Pomade geglättet und aus Zeitgründen auf eine Rasur verzichtet hatte, zog er ein frisches Hemd an, band sich eine Fliege um, und nach und nach komplettierte sich das Bild mit Frack, Zylinder und Abendcape. Er verscheuchte die Gedanken an Ella und schwang den Gehstock mit dem Derby-griff. Zum Teufel mit Lord Bakerfield! Noch war er in Berlin. Dolphin tänzelte die Stufen hinab, zum berühmtesten aller Gastgeber in der Tiergartenstraße.

      Als er am nächsten Morgen erwachte, war es halb elf. Er hatte den Wecker nicht gehört. War das alles tatsächlich passiert? Er suchte nach verdächtigen Spuren. Keine Scherben, keine fremden Gegenstände. Dann sah er das Taschentuch voller Blut auf dem Nachttisch liegen. Und offene Sicherheitsnadeln, die so verstreut waren, als kämpften sie mit erhobener Klinge.

      Nach einer eiskalten Dusche und einem viel zu heißen Schluck Kaffee, den er fluchend in das Spülbecken spuckte, knallte er die Wohnungstür zu.

      In der Knesebeckstraße suchte er eine Weile nach seinem Cabriolet. Womöglich hatte er es eine Straße weiter geparkt, und tatsächlich, es stand vor dem Milchladen. Er ging hinein und bestellte ein Glas.

      So langsam beruhigte er sich. Let the past be the past, hörte er