Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Название Am Ende des Schattens
Автор произведения Andreas Höll
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963115929



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als expatriate durchzugehen.

      Er hing dem Gedanken nach. Er kam ihm notierenswert vor. Wenn er getrunken hatte, spürte er eine Weite, die er, so er es denn endlich in Angriff nähme, für sein Berlin-Buch brauchen würde. Es war jenes Stadium zwischen Nüchternheit und Betrunkensein, in dem er sich von den täglich wechselnden Neuigkeiten und dem Kampf um die nächste Story löste. Man musste sich auf das Wesentliche konzentrieren, doch was das Wesentliche war, das vergaß er unter dem zunehmenden Druck seiner Blase.

      Dolphin stand vor der Rinne, aus der stechende Dämpfe aufstiegen, und konzentrierte sich darauf, einen bestimmten Punkt über dem Abfluss anzuvisieren. Das Geräusch klang wie Regen auf einem Blechdach.

      Wie gewöhnlich hatte er sich in die hinterste Ecke der Herrentoilette verzogen, obwohl niemand sonst da war. Vom Saal wehten Wortfetzen und Gesang herein, untermalt vom Klang einer Balalaika.

      Weiter vorne öffnete sich leise eine Klotür. Zu seiner Überraschung kam der Tänzer heraus. Nach ein paar Schritten stand er vor dem Waschbecken. Er schien Dolphin nicht zu bemerken und schaute lange in den Spiegel. Sein Blick war eigenartig leer, als wäre er zugleich wach und schliefe. Die gleiche Art von Ausdruckslosigkeit lag darin, wie vorhin, als er die Tanzfläche verlassen hatte. Als versuche er, sich auszulöschen, um keine fremden Blicke auf sich zu ziehen.

      Er stand da in seinem makellosen weißen Hemd, fast unnatürlich aufrecht, die Daumen unter die Hosenträger geschoben. Er betrachtete sich, offenbar nicht unzufrieden mit dem Ergebnis, und reckte das Kinn in die Höhe. Dann ließ er, als sei es das Normalste auf der Welt, mit einem lauten Knall die Gummibänder schnalzen. Das Geräusch befremdete Dolphin. Es brachte eine Saite in ihm zum Klingen, hart und wollüstig, wie sein Verursacher.

      Und dann war er weg.

      Er war nicht sicher, ob der Mann ihn gesehen hatte. Er stand am Waschbecken, spürte das Schwanken und vermied es, in den Spiegel zu schauen. Langsam seifte er die Hände ein, rieb sie lange aneinander, als sei Gründlichkeit mit einem Mal wichtig.

      Fräulein Herrmann erschrak, als er gegen Mittag, auf der Suche nach einem Glas Wasser, im Bad erschien. Sie polierte den Spiegel und bemühte sich, seinen Zustand zu ignorieren. Seine Augen waren verquollen, die Haare hatten ein wüstes Eigenleben entfaltet, dazu war er nur mit einer Pyjamahose bekleidet. Nachdem sie sich rasch entfernt hatte, trank er hastig einen Schluck und machte sich auf den Rückweg ins Schlafzimmer.

      Durch die offene Tür sah er, wie Fräulein Herrmann im Wohnzimmer den Staubsauger in Betrieb nahm. Das Gerät kam ihm grotesk vor. Es erinnerte an ein Beuteltier, das unaufhörlich Dreck in seinen Blähbauch hineinfraß.

      Dolphin ließ sich aufs Bett fallen und vergrub sein Gesicht im Kissen. Er schaute auf den Wecker, fluchte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schwitzte, hatte Durst. Draußen summte der Staubsauger. Sie führte ihn auf dem Teppich spazieren, minutenlang, hin und her, her und hin, als hätte sie einen Spürhund an der Leine.

      Sein Schädel schmerzte. In der Nachttischschublade fand er eine Benzedrin. Und noch eine. Er rollte sich auf dem Bett zusammen, kniete auf der Matratze und zog sich die Decke über den Kopf. Er stellte sich an der Wand auf, ging zum Fenster. Aufrecht stehen, das half. Es war zu dunkel. Er machte die Vorhänge auf. Zu hell. Er zog sie zu, auf, zu, wie in Trance, die Bilder der Nacht kamen, gingen, auf, zu, auf, zu, zu, auf.

       Das rote Licht, das wie Sirup an ihrer kalkweißen Haut herunterläuft

       Mit verrutschter Perücke geht sie, hoch erhobenen Hauptes, zur Bar, was ihn rührt

       Die Stille um sie herum, als fremde Menschen sich an den Schultern fassen und in einer wilden Polonaise durch den Saal galoppieren

      Kalinka ist die Verniedlichungsform der russischen Bezeichnung für den Gewöhnlichen Schneeball, sagt jemand

       Wie sie dasitzt vor ihrem Wodkaglas und den Inhalt taxiert, als müsse sie eine giftige Substanz bezwingen

       Der Heldentenor auf dem Podium singt, begleitet vom Pfeifen des Mikrofons, von Birken, ohne jegliche Obertöne

       Ihre aufgerissenen Augen, als sie ihn auf sich zukommen sieht

      Er nennt sie Sidonie, und sie bekommt einen Lachanfall, der ihr völlig entgleitet und in einem Röcheln endet

      Sie will nicht wissen, auch nicht von Natascha, die sich um Dolphin sorgt, dass Kalinka von Iwan Petrowitisch Larionow komponiert wurde

       Plötzlich ihre Hand, die ihn auf die Tanzfläche zerrt, wo sie etwas Langsames tanzen. Oder war es Tango?

      Schlechte Mikrofone und schreiende Sänger können nicht lineare Verzerrungen produzieren. Das hatte er einmal im Haus des Rundfunks gelernt

       Zärtlich schmiegt sie sich an Dolphin, versucht, die Arme um seine Schultern zu schlingen, als wolle sie einen Schrank umklammern, dann wandern ihre Finger zu den Schultern hinauf, er spürt ihre Brustwarzen durch den Stoff der ärmellosen Weste

       Er füttert sie mit Blinis, und sie lässt sich füttern wie jene Tiere, die von ihren Wärtern aufgezogen werden wie das eigene Kind, bis sie in einem einzigen Moment alles vergessen und mit einem Prankenhieb zerfetzen

       Beim nächsten Tanz übernimmt sie die Führung, was Natascha, die ihnen zuschaut, nicht zu passen scheint

       Sie trinken Wodka um Wodka, bis sie ihn küsst und ihm den Schnaps in den Mund spritzt

       Überhaupt hat sie etwas gegen sentimentale Volkslieder

       Vergebens schaut er sie an: Sie will nicht sagen, wo oder wer der Tänzer ist, und macht eine resignierte Bewegung, als verscheuche sie eine Fliege

       Nachfragen hilft nicht, sie weicht aus; stattdessen macht sie sich über die schwangeren Matroschkas lustig und sagt vertrackte Sachen

       Natascha wendet ihr den Rücken zu, als sie ein weiteres Schälchen Kaviar auf den Tresen stellt

      Jetzt weiß er, an wen ihn der Tänzer erinnert. Das Lauernde, sein jähes Emporschnellen, es ähnelt jenem Jack in the Box, der an Dolphins drittem Geburtstag aus der Schachtel sauste und ihm einen gewaltigen Schreck einjagte

       Die ärmellose Weste über der nackten Haut und das Schillern des Stoffs an ihrem Gesäß, das, von Ausprägung und Vollkommenheit her, an eine Ballerina erinnert, aber das sagt er ihr nicht. Vielleicht hat sie auch etwas gegen das Bolschoi

       Zu den vertrackten Sachen gehört: Frauen als Austräger fremder Wünsche, das mache sie schwerfällig und anfällig für die Vermehrung

       Da sie sich zu drehen beginnt, würde er nur zu gerne Schienen um ihren Barhocker legen und sie auf einem Wägelchen umrunden, um sie zum Stillstand zu bringen

      Jack in the Box hatte auf Deutsch komischerweise Springteufel geheißen, aber rot lackiert waren sie überall

       Sie winkt ab, als er sie nochmals fragen will, und steigert sich in eine Suada hinein und wütet gegen die Reproduktion der Gattung. Was hat sie bloß gegen Kinder?

       Alkohol reinigt, auch wenn er aus fremden Mündern kommt

      Irgendwann verbeugt sie sich wie ein Zirkusdirektor, nimmt mit todernster Miene die blonde Perücke ab und schreit auf einmal: Hereinspaziert!

      Als er Stunden später wieder aufwachte, fiel es ihm siedend heiß ein. Er hatte tatsächlich das Interview mit Professor Fischer verschlafen, ein Interview, mit dem er letzten Endes Lord Bakerfield und auch dessen Freund Churchill zu überraschen gedachte. Mit einem Satz sprang er auf und rief seinen Fotografen an. Der Verleger hatte Wort gehalten, das musste man ihm lassen, und noch dazu das Budget