Reichtum verpflichtet. Hannelore Cayre

Читать онлайн.
Название Reichtum verpflichtet
Автор произведения Hannelore Cayre
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867548335



Скачать книгу

und durch eine Reihe Metallplatten ist mein Rückenmark schwer beschädigt. Daran liegt es, dass ich nur so schleppend vorankomme und mich mit bis über die Oberschenkel reichenden Beinorthesen und zwei Stöcken aufrecht halte, die mir das Gehen ermöglichen. Ich habe ständig Schmerzen, aber dank der Härte von Omi Soize und weil man mich so oft Heulsuse geschimpft hat, habe ich gelernt, mich nicht zu beklagen, so nachhaltig, dass ich gar nicht mehr weiß, ob mir überhaupt was wehtut.

      Solange ich im Rehazentrum oder auf der Insel war, lief alles gut, aber als ich mich dem wahren Leben auf dem Kontinent stellen musste, der geballten jugendlichen Dummheit gepaart mit dem binären Denken am Gymnasium, war das ein anderes Paar Stiefel. Da ich mit meinen Krücken und meinen eingerüsteten Beinen für eine »1« nicht infrage kam, war ich eine »0«, eine bizarre Karotte, die immer aussortiert wird, weil sie nicht ins Kalibriernormal passt. Ein mieses Gemüse, das auf den Müll gehört.

      Heutzutage mag ich einen Dr. phil. haben, wirklich geändert hat sich dadurch nichts; die Erwachsenen sind bloß höflicher. Leute, die mich nicht kennen, ignorieren mich instinktiv, als wäre ich unfähig, einen Weg zu beschreiben, eine Frage zu beantworten, eine Meinung zu haben, nur weil ich auf Krücken durch die Gegend watschle. Als wäre ich im Grunde beschränkt. Wenn sie mich ausnahmsweise doch mal ansprechen, dann fixieren sie einen Bereich auf Kinnhöhe, um nicht meinem Blick zu begegnen, denn sie haben Angst. Wovor? Weiß der Henker. Immerhin könnte ich vielleicht ansteckend sein. Oder ihnen Unglück bringen.

      Ich halte mich nicht lange mit dem Geburtstagsessen meines Vaters auf, das am Abend meiner Ankunft stattfand und an sich nicht weiter spannend war. Dafür wurde das, was im Anschluss folgte, zum Ausgangspunkt für dieses ganze Abenteuer.

      Das Abendessen wurde hinuntergeschlungen. Omi Soize hatte uns Bratkartoffeln und Makrele mit Senf und zum Nachtisch einen fluffigen Gâteau de Savoie gemacht. Ohne ein freundliches Wort und ohne seinen Arsch zu heben, um ihr zu helfen, stopfte mein Vater das alles in sich hinein, während er uns mit seinen Verschwörungsmythen von der Sorte wir werden belogen – alle korrupt – ich kenne einen, der … nervte. Und ich nickte dazu mit der üblichen Toleranz derer, die weiß, dass sie gleich abhaut, was ich auch schleunigst tat, sobald der Tisch abgeräumt war.

      Ich ging also raus, um unter Menschen zu kommen.

      Zwei schlafende Schafe schwankten im Halbdunkel auf ihren Hufen und ein paar Katzen auf Abfallsuche machten ein bisschen Radau, aber bis auf das Le Kastel mit seinem erleuchteten Schaufenster, das ein helles Rechteck auf die Fahrbahn warf, war die Dorfmitte absolut ausgestorben. Man muss wissen, dass außerhalb der Saison auf der Insel eine so trostlose Atmosphäre herrscht, dass es einen wirklich guten Grund braucht, um nicht auf den Kontinent zu flüchten. So eine Stimmung müsste Touristen eigentlich abschrecken; aber im Gegenteil, sie zieht sie an. Es ist sogar die Lieblingszeit der depressiven Deppen auf der Suche nach Authentizität, die herkommen, um im Kontakt mit den Felsen, dem tosenden Meer und kübelweise Regen aufzutanken.

      Le Kastel ist eine über zweihundert Jahre alte Kneipe, von der man sagt, anhand der dort geschluckten Menge Alkohol lasse sich die Traurigkeit und Fröhlichkeit der Inselbewohner messen. Wie dem auch sei, sie ist einen Umweg wert, und sei es nur wegen der Deko. Der Wirt – den alle sinnig Sohn vom Boche nennen, mit Bezug auf seinen Vater den Boche, der während der Besatzung gezeugt wurde – hat seine Wände mit grauenhaften Plakaten vom Tro Bro Léon plakatiert, der bretonischen Variante des Radklassikers Paris–Roubaix, auf denen jeweils in unterschiedlichen Positionen ein schlammverschmierter Radsportler – mit einem Schwein zu sehen ist. Hier und dort lassen sich auch kleine Schweinefigürchen entdecken, die aus einer mutmaßlich gigantischen Sammlung stammen.

      Ich grüßte in die Runde und hockte mich in eine Ecke vor ein Glas Cidre, während ich mich beim Enkel vom Boche, fünfzehn Jahre und schon einen Ellbogen auf der Theke, nach dem Grund für die allgemeine Niedergeschlagenheit erkundigte: Die Kicker von Stade Brestois hatten mal wieder eine demütigende Schlappe erlitten.

      Es waren immer die Gleichen, die sich hier volllaufen ließen. Brieg mit seinem um den Hals gewickelten Baumwolltuch, der in seiner eigenen Vorstellung ein großer Skipper war. Demnächst holen wir sie ab. Wen oder was? Um wohin zu fahren? Wir sind nie dahintergekommen! Roger Orion, Gesichtsfarbe rohes Steak, immer am Motzen … an diesem Abend motzte er über die Robben, die seinen Fisch gefressen hatten, weshalb er davon träumte, sie mit dem Jagdgewehr abzuknallen (was er im Übrigen tut), verfickter Meeresnaturpark! Lebivic, Lokalkorrespondent von Ouest-France, dessen letzte Heldentat darin bestand, die Verliererliste bei den Kommunalwahlen als Wahlsieger anzugeben. Le Héron, Ex-DJ der ehemaligen Inseldisco, die in den Neunzigern nach wiederholten Alkoholkomas unter ihrem Asbesthimmel dichtgemacht wurde.

      Natürlich waren auch die drei aus Paris mit von der Partie, sie erlebten ihren großen Moment der Verbrüderung mit dem Autochthonen, insbesondere der depressive Brillenträger, der gerade seine Katharsis durchmachte. Stockbesoffen schilderte er den Kanaillen mit vielen widerlichen Details, wie seine Freundin Alice beim Einsturz eines Steinstupas zu Tode kam.

      Um ihn abzulenken, versprach ihm Brieg nachdrücklich, er werde, wenn wir sie abholen, Kathmandu anlaufen – stand eh auf dem Plan – und diesen armen Menschen helfen, einen Brunnen zu bohren. Er hatte schon einen in seinem Garten gebaut, so dass er vergangenen Sommer seine Kartoffeln gießen konnte, als die Stadtverwaltung Wasserrationierungen verhängt hatte. Roger Orion machte die sachdienliche Anmerkung, dass Kathmandu siebenhundert Kilometer vom Meer entfernt lag und man dort, am Fuße des Himalaya, zudem nicht eben an Wassermangel leide. »Dein Brunnen geht den Nepalesen am Arsch vorbei«, fügte er wenig nett hinzu. Der Witwer erklärte ihnen mit schwerer Zunge, seine Freundin habe die ganzen Arschlöcher in ihrer Familie kategorisch abgelehnt, was sie ihr heimzahlten, indem sie sie zur linken Socke erklärten, die ihres Standes unwürdig sei und die Ihren verrate. »Die sind schuld, dass sie tot ist«, plärrte er, denn sie sei ans Ende der Welt gereist, um ihnen zu entkommen.

      Die Säufer nahmen Anteil, indem sie gravitätisch den Kopf wiegten, ein wahrer Unglückstag, an dem Brest erneut den Aufstieg in die erste Liga verpasste.

      Die schmucklose große junge Frau fügte hinzu, dass Lili, ihre tote Freundin, so ein tolles, süßes, intelligentes, großzügiges Wesen – lass gut sein, dachte ich bei mir –, sich inniglich gewünscht habe, dass man ihre Asche von den Felsen der Insel übers Meer verstreut. Obwohl sie keine Asche zum Verstreuen hatten, da man Lili, Zitat, »zwangsbeerdigt« hatte, waren sie hergekommen, um ihre Lieblingsstofftiere ins Wasser zu werfen!

      »Mit etwas Glück erstickt eine Robbe an einem Teddy«, fühlte sich Roger Orion zu schließen bemüßigt.

      Da ich für einen Abend genug Schwachsinn gehört hatte, trank ich aus und ging nach Hause ins Bett. Aber als ich erst mal lag, fand ich keinen Schlaf, als würde ein Ding durch meinen Kopf kriechen und mir die Ruhe rauben; ein Gefühl von Unheimlichkeit. Und als ich es endlich schaffte einzuschlafen, hatte ich einen scheußlichen Albtraum, der mich sofort wieder aufweckte.

      Superverängstigt tastete ich nach meinem Smartphone, um auf die Uhr zu schauen, und da ich nicht wieder einschlafen konnte, tippte ich, um die Zeit totzuschlagen, bei Google die Wörter Erdbeben, Nepal, gestorben, Abgeordneter ein und erhielt Dutzende Treffer: Alice de Rigny, Tochter des ehemaligen Abgeordneten und Geschäftsmanns Philippe de Rigny, war vierzig Kilometer von Kathmandu entfernt auf grässliche Weise ums Leben gekommen.

      Alice de Rigny … Philippe de Rigny … Blanche de Rigny … Jetzt war ich vollends hellwach.

      Ich setzte meine Nachforschungen fort. Philippe de Rigny war der Boss der Öltradingfirma Oilofina. Seinen Sohn Pierre-Alexandre hatte man kürzlich am Flughafen von Abidjan verhaftet, als er gerade seinen Privatjet besteigen wollte. 2014 war gegen ihn ein Verfahren wegen Bestechung eingeleitet worden, es ging dabei um Kontaminierung mehrerer Mülldeponien der Stadt mit Giftabfällen. Den Beinamen Riesenarschloch hatte man ihm also nicht leichtfertig gegeben.

      Jetzt stand ich auf und begann die Sachen von Omi Soize hektisch nach Spuren meiner Familie väterlicherseits zu durchsuchen. Ich fand nur das Foto von meiner Großmutter und ihrem Stumpf von Gatten, das ich schon kannte,