Reichtum verpflichtet. Hannelore Cayre

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Название Reichtum verpflichtet
Автор произведения Hannelore Cayre
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867548335



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Sache, um zwecks Umgehung des Wehrdiensts irgendein hässliches Entlein zu heiraten. Außerdem muss ›Familienernährer‹ als Freistellungsgrund vor der Auslosung geltend gemacht werden, nicht danach! Es ist also zu spät.«

      »Hätten Sie auf mich gehört …«

      »Helfen Sie mir auf die Sprünge, diese Leute stellen Ziegel her, nicht wahr? Oder machen sie in Steinkohle? Oder in Patenten? Mit Verlaub, werte Tante, es steht Ihnen nicht zu, mir die Ehe zu predigen, wo Sie sich selbst stets dagegen gewehrt haben!«

      »Das ist etwas vollkommen anderes, wie Sie sehr wohl wissen. Wenn die Frauen immer noch heiraten, dann deshalb, weil sie die Gesetze nicht kennen. Sie aber sind keine Frau. Und ja, diese Leute machen in Steinkohle, wohingegen Sie, wenn ich erinnern darf, in gar nichts machen. Und die Gans, die davon träumt, dass eines Tages ein Dummkopf ihr ihre Erbschaft entreißt, ist Eulalie, ihrer Eltern einzige Tochter, und der Dummkopf in der Geschichte – wenn es nach mir geht, sind das Sie!«

      »Mademoiselle Eulalie hat mit neunzehn Jahren bereits die Statur eines kräftigen Landnotars, stellen Sie sich vor, wie sie erst mit dreißig aussehen wird. Obendrein ist sie ein nettes Mädchen und hat gewiss Besseres verdient als einen Mann, der sie niemals lieben wird.«

      Seine Tante zuckte schnaubend die Achseln. »Die Gonthier-Joncourt nehmen Sie niemandem weg, und sie weiß das nur zu gut. Genau wie ihre Eltern. Die Verbindung mit einer anständigen jungen Frau, sei sie auch wenig anziehend, dürfte Ihnen, da sie Ihnen Ihre Leidenschaft für … für philosophische Betrachtungen finanziert, weit nützlicher sein als Ihre Gelage mit den Habenichtsen, die sich in Ihren sozialistischen Cafés herumtreiben. Sie wollen Ihr Leben dem Denken weihen? Meinetwegen. Ein de Rigny kann mit seinem Leben anfangen, was er will, aber es ist ihm nicht gestattet, arm zu sein!« Clothilde äußerte diese Familienmaxime, ohne ihren Neffen auch nur anzusehen, während ein Kürassier ihr das Lächeln eines lüsternen Tiers zuwarf, das ihr Gesicht zum Glühen brachte. Auguste war es schlichtweg peinlich.

      »Aha, ich sehe schon … Dann überlasse ich Sie Ihren viehischen Gedanken … Guten Abend, werte Tante.« Damit wandte er sich in Richtung seines Hauptquartiers, will sagen, dem Café de Madrid auf dem Boulevard Montmartre.

      2

      Folglich schlafe ich bei Omi Soize, wenn ich auf der Insel aufschlage, und auf keinen Fall bei meinem Vater.

      Als kleine Nachzüglerin aus zweiter Ehe mag sie seine Tante sein, trotzdem ist sie nur acht Jahre älter als er. Sie hatte nie eigene Kinder, aber dafür hatte sie mich.

      Wenn man sie in ihrem beigefarbenen Regenmantel und ihren mit Haarspray festbetonierten grauen Ringellöckchen durchs Städtchen trippeln sieht, würde man sie auf fünfundsiebzig bis fünfundachtzig schätzen. Als diese Geschichte hier begann, war sie dreiundneunzig. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass wir auf unserer Insel, wo die Einwohner sowohl gesunde Lebensweise als auch sozialen Zusammenhalt pflegen – man isst, was man im eigenen Gemüsegarten anbaut, und alle stecken ihre Nase in die Angelegenheiten der Nachbarn –, eine landesweite Rekordzahl an Hundertjährigen haben. Kerzengerade und wie aus dem Ei gepellt, und sei es nur für den Gang zum Bäcker, hat sie sich stets in jeder Lebenslage um ein Maximum an Würde bemüht. Man trifft sie um 9:30 Uhr in der Bäckerei, um 9:45 Uhr im kleinen Supermarkt, um 9:50 Uhr im Zeitschriftenladen, um ihren Ouest-France zu kaufen, und um 10 Uhr auf dem Friedhof, um der Familie guten Tag zu sagen.

      Es heißt, sie hatte eine große Liebe, eine Liebe, wie es sie nur einmal im Leben gibt, dass der Auserwählte jedoch aufs Meer hinausfuhr und nie wiederkehrte.

       Langer Tag

       Seine Augen sind müde

       Vom Betrachten des Ozeans …

      Na ja, das ist das, was man sich erzählt, oder eher das, was sie einem immer weismachen wollte, aber ich habe den Verdacht, sie teilt mit allen Frauen hier eine zugleich realistische und resignative Auffassung vom männlichen Geschlecht: alles Drohnen, nur dazu nutze, Kinder zu zeugen.

      Ansonsten gehört sie charaktermäßig zu denen, die dir hemmungslos die Meinung geigen, denn sie findet, dass die meisten Leute Angeber sind und es ihnen total an Bescheidenheit mangelt. Mit dem Alter und der damit einhergehenden mathematischen Abwesenheit von Zukunft machen ihre fehlenden Filter sie schlicht unberechenbar.

      Es heißt, in diesem Punkt komme ich nach ihr. Bestimmt habe ich deshalb keinen Kerl und nicht nur, weil ich behindert bin und allein ein Kind großziehe. Ich bin vielleicht nicht, was man eine Granate nennt, aber deshalb noch lange nicht hässlich: Mittelgroß mit krückenbedingt starker Muskulatur, habe ich schönes Haar, das ich zum Chignon-Knoten hochgesteckt trage, eine sympathische Ausstrahlung und die blauen Augen meiner Mutter. Und wenn ich laufe, hat ein Matrose mir mal gesagt, erinnere ich ihn an das träge Stampfen eines Segelschiffs auf einem in der Sonne funkelnden Meer, was, wie Sie zugeben werden, eine ziemlich coole Beschreibung meiner Person ist.

      Körperlich gleiche ich offenbar meiner echten Großmutter Rose, Halbschwester von Omi Soize, Mutter meines Vaters, die lange vor meiner Geburt starb. In den Dreißigerjahren erlangte diese Dame an einem Tag mit zum Schneiden dichtem Nebel mit einer verrückten Aktion Berühmtheit, als sie etwa zwanzig Seeleute von einem auf Grund gelaufenen Handelsschiff rettete. Sie sprang in voller Montur ins Wasser und schleppte das Wrack einer riesigen Schaluppe, in dem sie alle Zuflucht fanden, mit der Kraft ihrer Arme an Land. Postkarten aus der Zeit, die das Ereignis feiern, sind im Zeitschriftenladen erhältlich. Darauf ist Rose zu sehen, mit Spitzhaube und in traditioneller Tracht, die Brust mit Orden behängt. Als ich klein war, haben die Erwachsenen in meinem Umfeld mir prophezeit, dass ich ihr eines Tages sehr ähnlich sehen würde, was mir insoweit schmeichelte, als ich sie wirklich ungemein hübsch fand. Nur dass das auf den Fotos gar nicht meine Großmutter war. Der Fotograf fand wohl, eine Frau mit Charakter zu sein sei mit der dem Anlass geziemenden Anmut unvereinbar, denn er wählte eine Inselschönheit mit dümmlicher Ausstrahlung, um ihm an Roses Stelle und mit ihren Medaillen Modell zu stehen …

      Tatsächlich existiert nur ein einziges Foto dieser kühnen Bretonin. Es zeigt sie, wie sie strahlend neben ihrem Ehemann steht, denn im Gegensatz zu Omi Soize und mir hatte meine Großmutter Rose wahnsinnig Glück in der Liebe. Zwar sieht sie auf dieser Aufnahme nicht sehr umgänglich aus und es gibt eine gewisse Familienähnlichkeit, aber es ist vor allem mein Großvater, der den Blick auf sich zieht: ein Klumpen Mensch, wie man ihn nur auf Bildtafeln in kriegsmedizinischen Fachbüchern sieht. Ein alter Krüppel von 14/18, den man auf ein Fass gesetzt hatte, weil ihm die Beine und auch ein Stück vom Gesicht fehlten. Renan de Rigny, die perfekte Illustration für unser Inselsprichwort zum Thema Männerknappheit: Greif zu, wenn du kannst, es gibt nicht für jede einen! Diesem Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg verdankten wir unseren eigentümlichen Familiennamen, während die Leute hier, da sie bei der Partnerwahl hart am Wind segeln, alle Cozan, Botquelen, Tual, Miniou, Malgorn oder Jezequel heißen. Das hätte mich stutzig machen müssen, aber da unsere Zugehörigkeit zur Inselgemeinschaft nie infrage stand, weil wir bei den Dorffesten beim Kartoffelschälen halfen, zu allen Beerdigungen gingen und sämtliche Zerwürfnisse von tausend Generationen kannten, waren wir von hier, basta.

      »Also, wie geht es Juliette?«

      Mit Omi Soize ist es bei meiner Ankunft immer der gleiche Einstieg, dabei beherrscht sie WhatsApp wie eine Göttin und spricht ständig mit meiner Tochter. Es liegt wohl daran, dass sie fernmündlich nur jedes fünfte Wort von ihr versteht, denn sie ist stocktaub, aber zu eitel, das zuzugeben.

      »Und dir?«

      »Bestens. Ich bin Chefin der Reproabteilung geworden, aber das habe ich dir schon x-mal erzählt, oder?«

      »Du hast dich nicht verändert, was? Triffst du denn wenigstens Leute?«

      »Wenn du mit Leute meinst: Hast du einen Kerl gefunden, der sich um Juliette kümmert?, lautet die Antwort nein. Ich brauche keinen. Meine Freundin Hildegarde und ihre Familie sind vollkommen ausreichend. Und meine Nachbarn. Der sechste Stock in meinem Haus ist wie hier, er ist wie ein kleines Dorf.«