Название | Der eigen-sinnige Mensch - eBook |
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Автор произведения | Helmut Milz |
Жанр | Медицина |
Серия | |
Издательство | Медицина |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039020966 |
»Zivilisation ist Sterilisation« (Aldous Huxley)
Sogar noch 1937 schrieb George Orwell in seinem Buch Der Weg nach Wigan Pier, dass das wirkliche Geheimnis der Klassenunterschiede im Westen sich knapp zusammenfassen ließe: »Die unteren Schichten riechen schlecht.« Und er führte aus: »Kein Gefühl der Ab- oder Zuneigung ist so tiefsitzend wie ein körperliches Gefühl. Rassenhass, unterschiedliche Erziehung, Temperamente oder Verstand, sogar die Unterschiede in den Moralvorstellungen, können überwunden werden, aber körperlicher Widerwille nicht.« Selbst nach der allgemeinen Verbesserung der Hygiene hielt sich dieses Klassenvorurteil weiter.
In ähnlicher Weise wurde dieses Geruchsvorurteil gegenüber der schwarzen Bevölkerung der USA gepflegt. Wenn die Behauptung des schlechten Geruchs nur oft genug wiederholt wurde, so die Kulturanthropologin Constance Classen, dann führte diese schließlich dazu, dass die Betroffenen dies selbst glaubten und versuchten, ihr von den Weißen behauptetes negatives »Geruchsbild« durch Deodorants und Parfüms zu überdecken.
Körpergeruch wird heute meist als peinlich wahrgenommen. Seine Auslöschung durch Körperhygiene, Seifen, Shampoos, Parfüms und Geruchsstoffe in den Textilien wird sozial gefordert. Dies überlagert die Duftnote eines jeden Menschen bis zur Unkenntlichkeit, und dies erschwert den Nutzen des Geruchssinns in Medizin und Heilkunde.
Der moderne, »hygienische Körper« kann bisweilen Ausgangspunkt für Geruchsneurosen werden. Bei einigen Menschen kann die Angst vor dem eigenen Körpergeruch zur »Autodysmorphie« führen, die einen stark überhöhten Reinlichkeitsdruck bis hin zum Waschzwang fördert.
Der Umgang mit Gerüchen und Ekelgefühlen in der Heilkunde
Mögliche Verbindungen zwischen Geruch und Krankheiten haben Ärzte schon immer beobachtet. So waren spezifische Ausdünstungen von Diabetes mellitus, Leberkrankheiten oder Gicht schon lange bekannt. Nachdem Geruchsdiagnostik bei modernen Ärzten lange als »primitiv« in Misskredit geraten ist, zeigt sich seit einigen Jahren ein erneutes Interesse an ihrem möglichen diagnostischen Wert.
Ärzte werden geschult, ihre Ekelgefühle vor Gestank zu ignorieren und zu unterdrücken. Während meiner ärztlichen Ausbildung habe ich lernen müssen, ekelerregende Gerüche von Urin, Stuhl, Eiter, Blut und Schmutz zu ertragen. Ärzte, Kranken- und Altenpflegepersonal sind in gewisser Hinsicht »Ekel-Profis«. Es gibt Abstufungen der Ekelschwellen, an die man sich »gewöhnen« kann. Ekelgefühle und schwer erträgliche Gerüche werden kaum thematisiert. Fast scheint es ein gewisses Ekelverbot zu geben. Schließlich seien diese Berufe, so wird betont, nichts »für schwache Nerven«. Der Umgang mit Faulem, Verwesendem sowie körperlichen Ausscheidungen aller Art gehöre zum Beruf dazu.
Desodorierung, Desinfektion, Kontaktscheu, Kontaktängste, Hand- und Mundschutz, Plastikschürzen, Schutzbrillen, Versachlichungen und Objektivierung von Patienten und Verrichtungen, Waschpflicht bis hin zum Waschzwang, Verdrängung und schwarzer Humor sind darum ständige Begleiter in den Kranken- und Pflegeinrichtungen. »Wo der Pfleger sich nicht ekeln darf, darf der Patient sich nicht schämen«, schreibt Christine Pernlochner-Kügler. In Heil- und Pflegeberufen sollte diese Thematik nicht tabuisiert oder verschwiegen, sondern behutsam gelehrt werden.
Riechen – eine neue Diagnosemöglichkeit?
Geruchsreize können die Aktivitäten des Nervensystems von anderen Menschen und deren Verhaltensweisen beeinflussen. Gerüche von erkrankten Körpern lösen andere Reaktionen im menschlichen Gehirn des Gegenübers aus als gesunde Körper. Wir wissen heute, dass jede Körperzelle in Form von MHC-Molekülen (MHC, engl. »major histocompatibility complex«, Haupthistokompatibilitätskomplex), typische Erkennungszeichen hat, durch die Informationen über ihre Proteinbestandteile an die Oberfläche gelangen. So spricht man zum Beispiel vom »Geruch des Immunsystems«. Im Krankheitsfall scheiden die Zellen Zytokine aus, also Proteine, die das Wachstum und die Differenzierung von Zellen regulieren und den Körpergeruch eines kranken Menschen typisch verändern.
Das Geruchssystem erfährt intensives Interesse durch Forschungen, die zeigen, dass auf bestimmte Gerüche konditionierte Tiere mit erstaunlicher Sicherheit in der Lage sind, subtile Ausdünstungen in Blut, Urin oder Atem zu identifizieren, die beispielsweise auf Krebserkrankungen (Lungen-, Brust-, Ovarial- oder Dickdarmkrebs) hinweisen. Ähnliches gilt für Asthma, Diabetes mellitus oder Tuberkulose.
In der Forschung wird fieberhaft an der Entwicklung von »elektronischen Nasen« gearbeitet, die mittels Sensoren und künstlicher Intelligenz spezifische Moleküle in der Atemluft und in Körperflüssigkeiten identifizieren und mögliche Vorstufen von Krebs oder anderen Krankheiten entdecken könnten. Diese Aufgabe erfordert jedoch das Ausfiltern von anderen Duftmolekülen der umgebenden Luft, um Fehler auszuschließen. Inzwischen werden große Versuchsreihen von Gesundheitsinstitutionen rund um den Globus und von privaten Gesellschaften angestellt. Nach Ansicht von Experten könnten solche »künstlichen Nasen« in etwa fünf Jahren für den klinischen Einsatz bereitstehen.
Aromatherapien
Im Rahmen von psychotherapeutischen Behandlungen können Gerüche gezielt helfen, frühere Situationen wachzurufen, um diese besser verarbeiten zu können. Es werden Duftaversionen und Duftvorlieben untersucht, Düfte können gezielt zur Angst- und Depressionslinderung beitragen.
Der Geruch: Gemälde von Peter Paul Rubens (Figuren) und Jan Brueghel d. Ä. (Landschaft und Tiere).
Der französische Philosoph Voltaire merkte einmal an, dass die beste Medizin diejenige sei, die ein starkes Aroma ausströme. Schon in der frühen ägyptischen Medizin, später bei den Griechen und Römern oder in der mittelalterlichen arabischen Medizin wurden pflanzliche Essenzen und Öle zur Heilung oder Gesundheitsverbesserung breit angewendet. Neben ihren angenehmen und der Förderung des Wohlbefindens dienenden Funktionen hatten manche Substanzen der Aromatherapie desinfizierende, entkrampfende oder psychologisch stabilisierende Wirkungen. In der Säftelehre der Griechen und des Mittelalters wurden sie zur Regulierung und Mobilsierung von »Lebens- und Naturkräften« verwendet. Sie sollten etwa dazu dienen, das Herz und die Lunge zu kräftigen, Bauchkrämpfe zu lösen oder Verletzungen und Wunden zu reinigen und heilen.
Heute wissen wir, dass Aromatherapien nachweislich Einfluss auf das Herz-Kreislaufsystem, den Blutdruck, die Atmung und das Gedächtnis, das Stressniveau oder die Hormone haben. Sie können Schmerzen und Übelkeit ebenso positiv beeinflussen wie Ängste oder Niedergeschlagenheit, Menstruationsprobleme oder Schlafstörungen.
In alternativen oder komplementären Heilverfahren ebenso wie im Wellnessbereich werden Aromatherapien heute zur Stärkung des Wohlbefindens verwendet, aber auch als therapeutische Unterstützung verwendet. Sie finden als Hautcremes, Öle, Duftessenzen in Verdunstern oder offenen Behältern eine breite Anwendung.
»Duftmarken« im Warenverkehr
Duftstoffe in Parfüms und Kosmetika gehören heute zur Betonung der persönlichen Duftnote im vermeintlich geruchsneutralen Alltag. Gerüche lassen sich bekanntlich nur schwer in angemessene eigene Worte fassen und werden meist bildreich umschrieben. Dies stellt für die Werbung von Parfüms und Duftstoffen eine Herausforderung dar. Um dieser zu begegnen, ist die Werbung auf Stilmittel der Bildersprache und der Provokation von Fantasien angewiesen. Beworben werden die Wirkung der Duftstoffe und die damit suggerierten, symbolischen »Images« und (Selbst-)Gefühle wie »Attraktivität«, Eleganz, Sex-Appeal und Coolness. Dabei haben sich seit den 1960er-Jahren die klassischen Geschlechtstypisierungen der Duftmarken immer mehr vermischt.
Die vermeintlich direkte Wirkung der Gerüche auf das Befinden und die Erinnerung der Menschen hat auch die gezielte Anwendung von Düften in öffentlichen Räumen befördert. Im Marketing von Shoppingmalls und Hoteldesignern macht sich dies zunehmend bemerkbar. Es gilt dort, eine wohlriechende, angenehme und entspannte Atmosphäre zu schaffen (nach dem Motto: »Gefühle verkaufen sich«). Durch die Betonung von Gerüchen