Название | Der eigen-sinnige Mensch - eBook |
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Автор произведения | Helmut Milz |
Жанр | Медицина |
Серия | |
Издательство | Медицина |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039020966 |
Wo früher noch Kontakt mit dem Anbau und der saisonalen Verfügbarkeit und Zubereitung von Lebensmitteln bestand, geht heute durch die Globalisierung jeglicher sinnliche Kontakt zur Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung für immer mehr Menschen verloren. Lebensmittel gleichen für viele Menschen einem »energetischen Treibstoff«, der durch Supermärkte geliefert wird.
Lasst es euch schmecken
Diese verkürzt dargestellten Verbindungen zwischen Biologie, Kultur und Gesellschaft mit dem Geschmackssinn machen deutlich, dass Geschmack mehr ist als eine Frage der Sinnesphysiologie. Der Gastrosoph Harald Lemke hat den Begriff »essthetisch« für den seiner Meinung nach »organlosen Sinn für Geschmack« verwendet. Er nimmt Bezug auf den Geschmacksphilosophen Brillat-Savarin und dessen Aussage: »Die Geschmäcker sind unzählig, denn jeder lösliche Körper besitzt einen besonderen Geschmack, der keinem anderen ganz ähnlich ist.« Die Frage, welche und wie viele Geschmäcker wir wahrnehmen, hängt davon ab, mit welcher Aufmerksamkeit, mit welchen Erwartungen, mit wie viel Zeit und Genuss wir uns zu essen erlauben. Aus der Mischung von Sinnesempfindungen entsteht das, was durch das Wort »munden« vielleicht am besten ausgedrückt wird. »Munden« deutet darauf hin, dass die Augen mitessen, dass es ein Ohrenschmaus ist, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft, dass wir uns »vollmundig« von dem überraschen lassen, was sich im Mund an Köstlichkeiten entfaltet. Vielleicht gehört zu einem vollmundigen Essen bisweilen auch etwas weniger Sittsamkeit, sodass Schlürfen und Schmatzen oder ausgeprägte Bewegungen von Mund und Gesicht nicht zu schnell der guten Sitte zum Opfer fallen. Das genüssliche Essen mit Freunden, Familie, Kollegen, ja selbst mit Fremden könnte wieder mehr zum Erlebnis werden, das Gemeinschaft spendet. Wer etwas miteinander klären und lösen möchte, der wird »zu Tisch gebeten«, und man setzt sich gemeinsam »an einen Tisch«. Vielleicht können gemeinsam genossene Mahlzeiten sogar dazu beitragen, dass wir uns weniger bekriegen und mehr friedliches Miteinander finden.
Maßhalten und bewusst genießen
»Es ist also nötig, sich nach einem bestimmten Maß umzusehen. Als Maß aber, auf das man sich beziehen könnte, um Sicherheit über die Quantität und Qualität der Speisen zu gewinnen, wird man weder ein Gewicht noch eine Zahl noch etwas anderes finden, sondern nur das Gefühl des Körpers«, schrieb schon Hippokrates.
Ursprünglich prüft der Geschmackssinn die Genießbarkeit einer Nahrung. Wenn diese für gut befunden wird, dann kann sie zum Essen verführen. Essen soll den Hunger stillen und uns neue Lebenskräfte einverleiben. Ernährung und Lebensmittel gehören (neben Leibesübung und Ruhe, Klima, Sexualität, u.a.) zu den unverzichtbaren Grundelementen der gesundheitlichen Ordnungsvorstellungen (Diäten). Der Begriff »Diät« leitet sich von griech. »dieita«, Lebensweise, Lebenskunst ab. In der Tradition des Hippokrates wurde erstmals die Idee vertreten, dass nicht nur die Götter über Wohl und Wehe entscheiden, sondern dass die Menschen selber, durch ihre Lebensführung, mitbestimmen, wer Herr/Frau in ihren Körpern ist. Dementsprechend wichtig sei es im einfühlsamen Kontakt mit dem Körper zu sein und mit ihm das notwendige Maß für Tun und Lassen zu finden.
Prophylaxe und Prävention sind in die Ordnungsvorstellungen aller Heilkunden eingebunden. Diese beziehen sich auf die angenommenen »Kräfte« und »Energien« der Lebensmittel, deren saisonale Bedeutungen sowie ihre Kühlung oder Erwärmung, Befeuchtung oder Trocknung des Körpers nicht zuletzt auf das gesunde Mischungsverhältnis bzw. Gleichgewicht der Nahrungsmittel. Dabei ergeben sich teilweise Überschneidungen, aber auch Unterschiede zwischen den westöstlichen Heilkunden. Heute werden diese Unterschiede in populär-globalisierten Gesundheits- und Ernährungsratgebern oft ausgeblendet.
Gesunde Ernährung und Nahrungsmittel als Unterstützung von Heilungsprozessen haben eine wichtige Bedeutung. Die moderne Ernährungswissenschaft und deren medizinische Anwendungen haben sich oft auf biochemische Analysen von Nähr- und Wirkstoffen sowie deren pharmakologischen Wirkweisen beschränkt. Ihre Ratschläge beziehen sich darauf, welche Menge und Dosis für den allgemeinen Organismus ausreichend und gut ist, losgelöst von den individuellen Besonderheiten der Menschen. Wissenschaftliche Daten können die Prüfung des individuellen Bedarfs und der persönlichen Bedürfnisse nicht ersetzen. Alternative, naturkundliche oder ökologische Heilmethoden können manche Lücke im Umgang mit Nahrungsmitteln schließen. Oft neigen sie jedoch auch zu ideologischen Verkürzungen, und manche machen es sich mit dem Slogan »Essen Sie sich gesund« zu einfach.
Lebensmittel sind mehr als der Treibstoff zum Überleben, auch wenn dies angesichts der großen Verbreitung von Fast Food »to go« immer häufiger diesen Eindruck vermittelt. Neben der wissenschaftlichen Quantifizierung von Nährstoffen bleiben Qualitäten wie »genießen können« und »Genuss« wichtige Bestandteile der Wirkweisen von Nahrung. Bewusst genießen zu wollen, zu können und zu dürfen sind ein persönlicher Ausdruck von Selbstliebe, Selbstsorge und Selbstverantwortung. Wie viel oder wie wenig, wie üppig oder wie bescheiden das zu Genießende jeweils ist, diese Frage wird individuell beantwortet. Es gilt, die guten Gelegenheiten zu genießen und »auszukosten«. In diesem Wort steckt die zeitliche Begrenzung jedes Vergnügens.
Genuss steht schon seit der Antike, vor allem aber seit dem christlichen Mittelalter, im Verdacht von Völlerei, Exzess, Sünde, Hemmungs- oder Schamlosigkeit. Statt über das Genießen zu sprechen, werden Schattenbilder von Genusssucht, ausufernden Gelüsten oder missbrauchten Genussmitteln an die Wand geworfen.
Auch heute kennen wir die Ambivalenz der Bezeichnung »Genussmensch«. Wir meinen damit einerseits Lebenskünstler oder Feinschmecker, aber auch Lebemenschen oder hemmungslose Genießer. Letztere überziehen maßlos, können kaum einer Versuchung widerstehen, sind süchtig nach Genuss, kennen wenig Grenzen, schlagen sich den Bauch voll, geben sich die Kante oder fallen gar über alles her.
Genießen bringt die Herausforderung mit sich, die Balance zu finden »zwischen Hingabe an die eigenen Bedürfnisse und der Fähigkeit, diese kontrollieren zu können« (Eva-Maria Endress). Es bietet sich uns vieles an, in dessen Genuss wir kommen können – Lebensfreude, Heiterkeit, Vergnügen, Spaß, Wohlbehagen, Leidenschaft, Lust, Hingabe, Seligkeit, Schönheiten der Landschaft, Delikatessen, Leckereien, Spezialitäten, Muße, Feierabend, Stille, Urlaub, Vertrauen, eine gute Ausbildung, Respekt, einen guten Ruf –, aber auch billiges Amüsement, Ausschweifungen, Gelage, Fressen, Zügellosigkeit. Letztere Formen des Genusses haben einen »schlechten Beigeschmack«. Es gilt deshalb, nicht auf den »falschen Geschmack zu kommen«, manches »mit Vorsicht genießen«, und einiges erweist sich auch als »ungenießbar«. Auch angesichts des gewünschten Konsumrauschs sollten wir uns unsere gesunde Genussfähigkeit nicht nehmen lassen, sondern diese verteidigen und pflegen.
RIECHEN –
Immer der Nase nach
Der kleine Gott der Welt (…)