Der eigen-sinnige Mensch - eBook. Helmut Milz

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Название Der eigen-sinnige Mensch - eBook
Автор произведения Helmut Milz
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783039020966



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amerikanische Magazin The New Yorker einen spannenden Einblick in die hermetische Welt der Aromaentwickler gegeben (R. Khatchadourian).

      Ein erhebliches Problem für die Nahrungsmittelindustrie ist die von den Gesundheitsbehörden intensiv geforderte Herabsetzung der Mengen von Zucker, Salzen und Fetten in Produkten. Der Versuch, dem nachzukommen, erwies sich als ein interessantes »Verbraucherproblem«. Dadurch, dass die Industrie den Gehalt an diesen potenziell gesundheitsschädlichen Substanzen deutlich vermindert hatte, veränderte sich der Geschmack ihrer angebotenen Produkte so, dass viele Verbraucher diese deutlich weniger kaufen wollten. Hier sprang die Aromaforschung ein, indem sie half, die »gewohnten Sinneseindrücke« durch geschickte Aromakombinationen wieder in Erinnerung zu rufen. Aromatische Geschmacksentwickler interessieren sich für die konservativen Geschmacksvorlieben der Menschen und setzen sie der Illusion aus, das Gewohnte beibehalten zu können. Ohne Aromamittel könnte auch die Fast-Food-Industrie nicht in der gleichen Weise florieren. Das Food-Engineering hilft, darüber »hinwegzuschmecken«, dass viele industriell zubereitete Nahrungsmittel eine Ansammlung von sehr unterschiedlichen Komponenten sind.

      Auf die Frage »Wonach suchen Sie Lebensmittel aus?« antworteten die deutschen Konsumenten in einer Umfrage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft 2017 fast alle (97 %), dass sie einkaufen, was ihnen schmeckt. Etwa drei Viertel der Befragten legte Wert auf regionale Lebensmittel. 57 Prozent der Befragten gaben an, dass es preiswert sein müsse. 45 % bevorzugten bestimmte Marken und nur 35 Prozent gaben an, sich an bestimmten Gütesiegeln zu orientieren. Hinsichtlich der Erprobung neuer Produkte gaben nur 31 Prozent eine positive Auskunft.

      Die alte Todsünde der Völlerei. Illustration zu: François Rabelais, Gargantua. Holzstich von 1854.

      »Ich kaufe was mir schmeckt« – dies bedeutet für die Lebensmittelherstellung eine große Herausforderung – gleichzeitig konservative Geschmäcker zu befriedigen sowie neue Geschmacksrichtungen zu entwickeln und zu vermarkten. Bei aller Kritik und der notwendigen Unterstützung regionaler Produkte sollte nicht vergessen werden, dass die Technologisierung der Lebensmittelproduktion und der Lebensmittelverarbeitung wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Grundversorgung auch der ärmeren Bevölkerungsschichten mit Lebensmitteln in den Industrieländern weitgehend gesichert werden konnte.

      Eine besondere Rolle spielt die massive industrielle Produktion von Zucker. In den Industrieländern ist der Zuckerverbrauch pro Kopf heute 25 x höher als im 18. Jahrhundert. Weltweit hat sich der Zuckerkonsum deutlich erhöht (J. McQuaid). Dabei steigt er vor allem in einigen Schwellenländern an, während er in der EU und den USA etwas rückläufig ist. Durch die süße Verführung des Geschmackssinns hat sich unter der Hand eine Gewöhnung ergeben, die dazu führt, dass Bundesbürger statistisch im Schnitt in der Nahrung 24 Teelöffel Zucker pro Tag zu sich nehmen und US-Bürger sogar 40 Teelöffel pro Tag. Die Welt unternimmt momentan ein riesiges »süßes Experiment«, mit den bekannten Folgen von global wachsenden Übergewichtsproblemen und den rasch ansteigenden Zahlen von Diabetes mellitus. Aber auch die Salzwürze, die viele Geschmacksrichtungen betont, hat sehr hohe Verbrauchsformen angenommen.

      Spezifische Genussstoffe wie Tee, Schokolade oder Kaffee sind heute überall vorhanden und werden als Freizeit- und Verführungsprodukte massenhaft genossen. Bei diesen Nahrungsmitteln gibt es in den Medien viele Warnhinweise hinsichtlich des überzogenen Verzehrs. Diese fruchten aber wenig, wenn man sich nicht selber für einen bewussteren Umgang mit Lebens- und Genussmitteln entscheidet.

      Die Verbindung von Nahrungsmitteln und möglichem Übergenuss hat schon immer Diskussionen um Völlerei und Diäten mit sich gebracht. Bereits Epikur von Samos schrieb im 3. vorchristlichen Jahrhundert: »Nicht der Bauch ist unersättlich, wie die Leute meinen, sondern die falsche Vorstellung vom unbegrenzten Anfüllen des Bauches.« Als Oberarzt einer Essstörungsabteilung habe ich Erfahrungen damit gemacht, wie schwierig Veränderungen in den Essgewohnheiten sein können. Dabei tauchten alle Problematiken von heimlicher Verführung, heimlichem Genuss oder von gegenteiliger, asketischer Verweigerung in der Form von Magersucht auf. Geschmack und Essen sind eine Sache der Gewohnheit, die mit Ängsten belegt ist.

       Über Götterspeisen, Gastmähler und Mahlzeiten

      Angesichts der zentralen Bedeutung von Nahrung und Ernährung für das Überleben von Gemeinschaften war ihre symbolische Bedeutung immer groß. Dementsprechend hat das gemeinsame Darbieten und Opfern von Nahrung einen hohen Stellenwert in allen Kulturen und Religionen. Von den Maisgöttern der Azteken und Hopi-Indianer über Speisendarbietungen an die Götter, Geister und Ahnen im buddhistischen Kontext, den islamischen Ramadan, den Seder-Abend des jüdischen Pessach-Fests oder das christliche Abendmahl in der heiligen Messe und Kommunion finden sich weltweit kulturelle Essensrituale.

      Die Art und Weise, wie die Nahrung gewonnen wird, wie geschlachtet und zubereitet wird (»halal« oder »koscher«), wie »was, wann und mit wem« verzehrt wird, nimmt Einfluss auf die Essensrituale. Gemeinsame Tischgebete finden sich in allen religiösen Traditionen. Ich bin in einer katholischen Großfamilie aufgewachsen. Tischgebete gehörten dort ebenso zur Regel wie der Verzicht auf Fleisch und das Essen von Fisch am Freitag oder der Empfang der Hostie bei der heiligen Kommunion. Als Messdiener nahm ich an frühmorgendlichen Feldprozessionen zur symbolischen Bitte um Fruchtbarkeit für die Felder teil. Brot zu brechen und untereinander zu teilen, gehört zu den rituellen Gesten verschiedener Kulturen. Ebenso auch der Leichenschmaus zur gemeinsamen Erinnerung an die Verstorbenen.

      Nicht nur im religiösen Kontext, sondern auch im ethnischen und nationalen Zusammenhang spielt Essen eine besondere Rolle. Wir sprechen von »Nationalgerichten« und »Nationalgetränken«. Gerade in globalisierten Gesellschaften gibt es viele ethnisch bezogene Traditionen zur Pflege von Esstraditionen und Esskultur. Bisweilen werden damit Heimatorte oder Regionen, in denen man gewohnt hat, bewusst erinnert. Im Rahmen des Tourismus ist es wichtig, die Authentizität der regionalen Küche hervorzuheben.

      Immer häufiger verzehren Menschen ihr Essen ohne Pausen vor dem Bildschirm.

      Auch im Familienkontext werden kulturelle und sozial angeeignete Rituale von Essen und Geschmack betont. Die gemeinsamen Mahlzeiten der Familie sind wichtige Alltagsrituale: »Lasst es euch schmecken«, »gesegnete Mahlzeit«, »haut rein«. Gemeinsame Mahlzeiten im Familienkontext dienen auch zur Aneignung von Tischsitten und Essverhalten. Händewaschen, warten bis alle am Tisch sind, Essen unter den am Tisch sitzenden Familienmitgliedern aufteilen, das Essen nicht herunterschlingen, nicht schmatzen, nicht beim Essen reden, nicht mit den Fingern essen oder zu deutlich das Essen mit der Nase prüfen.

      Die ursprüngliche private Weitergabe von Kochgeheimnissen und Kochrezepten ist inzwischen immer mehr an Kochbücher, Food-Blogs oder Fernsehkochshows delegiert worden. Die sozialen Veränderungen bedingen heute, dass Kinder ihr Frühstück in den Kitas oder in der Schule zu sich nehmen. Gemeinsame Mittagsmahlzeiten werden durch Kantinenessen und Fast Food zwischendurch ersetzt. Für viele Menschen ist Essen im Arbeitsalltag zum »Stressfaktor« geworden. Manche verzichten häufiger vom Frühstück bis zum Abendessen auf Nahrungsaufnahme oder stopfen sich vor dem Bildschirm rasch etwas in den Mund. Diese unregelmäßige Nahrungsaufnahme und die damit verbundene biologische Veränderung der Verdauung haben erheblichen Einfluss auf die zunehmenden Essstörungen, etwa in Form von Übergewicht.

       Vom lokalen Anbau bis zur industriellen Produktion von Nahrungsmitteln

      In den letzten zweihundert Jahren hat die Nahrungsmittelproduktion erhebliche Veränderungen erfahren. Maschinell unterstützter Anbau, Konservierung, Transport, Verpackung, Vermarktung und industrielle Produktion von Nahrungsmitteln haben in enormem Tempo zugenommen. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der ärmeren städtischen Bevölkerung ihren Kohlenhydratbedarf mit Getreide und Mehl, Bohnen und Erbsen und nur wenigen tierischen Nahrungsmitteln deckte, herrschte auf dem Land weitgehend Selbstversorgung. Die ärmeren Schichten in den Städten mussten damals drei Viertel ihres Lohns für Nahrungsmittel aufbringen.

      Mitte des 19.