Die Eifel und die blinde Wut. Angelika Koch

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Название Die Eifel und die blinde Wut
Автор произведения Angelika Koch
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839269022



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von euch wird noch eine stinkende und klebrige Mülltonne voller Ungeziefer im Hausflur stehen haben. Diese Zeiten sind vorbei, liebe Freunde, ja, ich sage euch, sie sind vorbei!« Nippes breitete die Arme aus, zeigte die feuchten dunklen Stellen seines Hemdes und krachte mit der rechten Hand ans Mikro. »Wir machen Abfall zu einem Erfolg, zu einem sauberen Erfolg. Wir denken an die Zukunft, wir machen Zukunft. Gerade auch … und das sage ich euch … gerade auch in Zeiten des demografischen Wandels. Jedes Dorf, jede Straße, jede Stadt bekommt supersaubere Sammelstellen für Abfall. Für euren täglichen Küchenabfall. Keine Oma muss mehr mit Besen und Gartenschlauch ihre Tonne reinigen, keine Oma muss sie bei Schnee und Eis zur Straße schleppen, keine Oma muss jeden Cent ihrer kleinen Witwenrente dreimal umdrehen, nur um ihre Gemüsereste loszuwerden. Denn das Schönste: Das ist viel billiger, ja viel billiger als eure Tonnen voller Maden, die ihr da jetzt im eigenen Garten stehen habt oder in der eigenen Garage.« Er machte eine Pause, in Erwartung von Beifall, erntete jedoch zunächst Gemurmel, bis dann doch jemand klatschte. Werner Baltes sah zur Seite: Es war Lamm. Andere folgten seinem Beispiel, erst zögerlich, dann mitgeschleift von den Einzelnen, den Vielen, der hundertköpfigen Menge.

      »Wovon redet Nippes eigentlich?«, brummte Baltes. »Bei uns stinkt nichts. Und der ist doch Landwirt. Was hat der gegen ein bisschen Geruch?« Er wurde ungeduldig. »Wann kommt er endlich zum Punkt?«

      Lamm beugte sich zu ihm. »Ganz im Vertrauen, Herr Kommissar, ich glaube nicht, dass das neue System reibungslos durchgeht. Die Leute mögen keine Veränderungen.«

      »Ach, wer soll sich über solchen Kleinkram schon aufregen«, schaltete sich Vera ein, »es ändert sich sowieso immer alles. Ihr Parteifreund versucht wohl nur, mit Nebensächlichkeiten davon abzulenken, dass er Klimakrise, Flüchtlingselend, Terrorismus und so nicht in den Griff kriegt.«

      Lamm sah sie über den Rand seiner Brille an. »Ihnen fällt schon auf, gute Frau, dass Sie da von einer kleinen regionalen Wählervereinigung etwas viel verlangen?«

      »Na und? Alles fängt klein an. Hat Ihr Parteifreund sonst noch was zu sagen?« Sie setzte sich kerzengerade auf und bemerkte, dass der Geistliche ihr aufmerksam in die Augen sah, als hätte er sie als Seelenverwandte ausgemacht.

      »Die Müllgebühren werden deutlich sinken, das sage ich euch, so wie ich hier stehe«, fuhr Nippes mit tiefem Bass fort, wie ein gütiger Nikolaus. »Wir reden hier über echtes viereckiges Geld. Und wir denken an die alleinerziehenden Mütter, die nun mehr in der Tasche haben. Aber …« Nippes machte eine horizontale Handbewegung, als wolle er sein Publikum segnen. »Ich sage: Ja, ja, wir müssen auch an die Jugend denken! Viele von euch wissen, dass mir die Jugend besonders am Herzen liegt.«

      In den Priester kam Bewegung. »Das achte Gebot, er sollte es nicht allzu weit auslegen«, sagte er und schwieg sofort wieder, ganz konzentriert auf den Redner, bevor Vera etwas entgegnen konnte. Sie hätte gewettet, dass Nippes ein eifriger Kirchgänger und vorbildlicher Katholik war. Aber offenbar war auch er nicht unfehlbar.

      »Die Jugend«, seufzte Nippes nun, »die Jugend braucht Orientierung. Auch und gerade in der Eifel, auch und gerade hier, wo der Zusammenhalt noch intakt ist, wo ein Wort noch etwas gilt. Darum, meine lieben Freunde, darum haben meine Rechtsstaatlichen und ich, wenn ich das so bescheiden sagen darf …« Er bebte kurz auf, ein Kichern, ein Lächeln, ein Lachen, Werner Baltes wusste nicht genau, was es sein sollte. »… etwas ganz Besonderes auf den Weg gebracht. Wir – und das meine ich wirklich – wir bieten den Jugendlichen an, gemeinsam mit den Pfarreien, dass sie ein Schnupperpraktikum auf unseren Höfen machen können. Tagsüber richtige Arbeit, danach Gesprächsrunden. Einmal über alles reden können, darum geht es doch. Und was tun! Runter vom Sofa, sage ich nur, rein in die Äktschn. Trecker fahren, auf dem Acker. Auch die Mädels, ja, die natürlich auch! Und im Wald helfen, das Totholz fortzuschaffen. Ja, unsere geschundenen Wälder brauchen Hilfe. Die bekommen sie nun. Von den Jugendlichen, die unsere Jugendämter betreuen. Da braucht niemand mehr Freidehsforfjutscha, wir machen das ganz konkret, sage ich euch, ganz konkret! Ich sage das auch als Bauer, ich bin ja auch ein Bauer, wie ihr wisst. Ich weiß, wie und wo man anpacken muss. Und jetzt wird angepackt! Auch von den jungen Leuten.« Er selbst packte an, rüttelte am Rednerpult, während abermals Applaus aufbrandete, diesmal ohne Zögern. »Ich danke euch, meine lieben Freunde, ich danke euch. Auf in ein neues Jahr, auf in ein gutes Jahr. Wir Rechtsstaatlichen, wir schaffen das, dank euch.« Er trat ab, schweißnass, lächelnd, zufrieden.

      4

      Werner Baltes hatte Nippes seitdem nie mehr lebendig gesehen. Zwischen dem Neujahrsempfang und dem Auffinden der Leichenteile lagen acht Monate. Was war in dieser Zeit geschehen? Hatte es schon damals jemanden gegeben, der überlegte, wie er den ihm Verhassten beseitigen könnte? Denn es musste Hass gewesen sein. Kein Kalkül, kein nüchternes Aus-dem-Weg-Räumen eines Widersachers oder Konkurrenten. Oder war das Wüten der Zerstückelung eine bewusst gelegte falsche Fährte? Ausgeschlossen war wohl ein Raubmord, denn in Nippes’ Haus fehlte nichts. Laut Aktenlage. Sogar der ordnungsgemäß abgeschlossene Schrank mit den legal erworbenen Jagdwaffen blieb unangetastet. Die Munition lag vollzählig daneben. Baltes blätterte und las. Didier und die Subotka hatten akribisch gearbeitet.

      Nippes war, bevor er seine politische Karriere in Angriff nahm, tatsächlich leidenschaftlicher Landwirt, in fünfter Generation, mindestens. Seine pralle Hemdsärmeligkeit war ungelogen. Dann rollte die Devise »wachse oder weiche« auch über die Eifelhügel, und Nippes, ausgestattet mit einer guten Nase für Geschäfte, hatte es klüger gefunden, rechtzeitig zu weichen und den Fuhrpark mit schweren Landmaschinen und einiges Land zu verkaufen. Er hatte seine leer stehende Scheune in vier Ferienwohnungen umgebaut. Urlaub auf dem Land lag im Trend. Der Stall blieb Stall, nicht mehr für Schweine, sondern für einen Streichelzoo aus Ziegen, einer kleinen Herde Heidschnucken, jeder Menge Kaninchen und vier flauschigen Eseln. Wandern mit Eseln. Nippes machte Witze darüber. »Wer mit Eseln wandert, ist selbst einer.« Esel können eine Ewigkeit wie festgenagelt auf der Stelle stehen bleiben und nichts bringt sie fort. Dann wieder traben sie los und der wandernde Mensch stolpert neben ihnen her.

      Es war Lisamaries Aufgabe, das mit den Gästen und der niedlichen Menagerie. Er hatte dafür keine Zeit, die Politik brauchte ihn. Für sie hatte Nippes über dem Stall eine eigene Wohnung eingebaut. Mit ihrem Vater unter einem Dach leben, in ihrem einstigen Kinderzimmer, das hatte sie nicht gewollt. Auf gar keinen Fall.

      Baltes las in der Akte: Lisamarie Bentheim, zweiunddreißig Jahre alt, einzige Tochter von Timotheus und Katharina Nippes, sehr gutes Abitur am internationalen Eifelgymnasium, dann Architekturstudium in Köln nicht durchgehalten, danach Animateurin für eine große Hotelkette in Antalya und Olhão, Kreuzbandriss, arbeitslos, drei Jahre Ehe mit einem John Bentheim in den USA, keine Kinder, zurück in die Eifel, Mutter gepflegt bis zu deren Tod. Kein Alibi.

      Ihre Aussage sprang ihm in die Augen: »Ich habe mir zwanzig Jahre lang vorgestellt, wie es ist, wenn er tot ist. Aber jetzt merke ich … das ändert gar nichts. Nicht das Geringste ändert das.« Sie hatte laut Subotkas Kommentar bei diesen Worten nicht kühl gewirkt, eher den Tränen nah.

      *

      Baltes und Vera schlenderten durch den Dauner Kurpark, Hand in Hand. Irgendwie war es dem Kurpark gelungen, der Aufmerksamkeit der Touristen zu entgehen, die im Corona-Sommer die Eifel fluteten und an den Maaren Schilfgürtel und Seerosen niederwalzten oder sich mit ihren Wohnmobilen in den gewundenen Kleinstadtstraßen und Dorfgassen verkanteten. Im Park war die Welt so heil wie vorher. Die Fische bahnten sich in majestätischer Gelassenheit ihre Bahnen durch das dunkelgrüne Wasser des Weihers, die Enten bettelten beharrlich schnatternd um Brotkrumen, nicht ahnend, dass die für sie selbst ungesund waren. Der einst sattgrüne Rasen war zwar von der Dürre schütter und braun geworden, doch noch immer plätscherte die Lieser zwischen Park und Wald entlang. Sie ließen sich auf einer Bank ganz nah am Kneippbecken nieder und sahen zu, wie sich wenige Meter entfernt ein Rennradler in neongelbem Outfit anschickte, den Kosmosradweg Richtung Meerfeld zu erobern. Er würde unterfordert sein, es war fast durchgängig eine gemütliche Strecke ohne imposante Steigungen. Das grelle Trikot geriet schnell aus dem Blick, nur noch das Knirschen der Reifen auf dem mit feinkörniger Lava befestigten Weg war einige Momente länger zu hören.

      »Wir sollten