Das Archiv des Teufels. Martin Conrath

Читать онлайн.
Название Das Archiv des Teufels
Автор произведения Martin Conrath
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268704



Скачать книгу

Unterricht in Strategie und Waffenkunde. Im Krieg haben sie gemeinsam gedient, im Feld hat sich ihre Freundschaft bewährt und gefestigt. Nach dem Krieg haben sie sich ein wenig aus den Augen verloren, aber ihre Verbundenheit ist nie abgerissen, auch wenn sie mal längere Zeit nichts voneinander gehört haben. Hier in München haben sie ihre Freundschaft aufleben lassen. Will ist für Robert, was man einen echten Freund nennt, und er hat seine Finger überall drin. Es hätte Robert gewundert, wenn Will seine Nummer nicht gehabt hätte.

      »Okay, Robert, wie kann ich dir helfen?«

      »Erst mal danke, dass du zurückgerufen hast.«

      »Ist doch klar, Rob.«

      »Den Test hast du bestanden.«

      »Logisch. Sonst hätte ich dich nicht anrufen können. Schleim nicht rum, Rob. Was liegt an?«

      »Ich brauche deine Hilfe.«

      Will schweigt einen Moment. »Das glaube ich gerne. Du solltest auf dem Weg nach Hause sein. Wir reden am besten unter vier Augen. Was hast du heute Abend vor?«

      »Außer Akten fressen, nichts.«

      »Dann ist die Sache klar. Die Jungs machen eine kleine Feier im Club. Bist du dabei? Es gibt wirklich gute Musik, wirklich gutes Essen, wirklich klasse Frauen und erstklassige Getränke. Neun Uhr.«

      Robert freut sich, seinen Freund wiederzusehen, und er braucht eine Pause. »Überredet. Heute Abend lassen wir es krachen!«

      »Darauf kannst du wetten! Bis später.« Will legt auf.

      Robert schlurft ins Bad, bewundert die Ringe unter seinen Augen, duscht heiß, rasiert sich. Er hat die letzte Nacht fast nicht geschlafen, und die wenigen Stunden, in denen er vor sich hin gedämmert hat, waren durchzogen von Träumen, mit immer denselben Themen: Blut, Schweiß und Tränen.

      Er brüht sich eine Kanne Kaffee auf, trinkt zwei Tassen hintereinander, die heiße, bittere Flüssigkeit versengt ihm den Gaumen. Langsam lichtet sich der Nebel in seinem Kopf. Zwei Tage und zwei Nächte hat er Papiere gesichtet, Akten gewälzt. Er greift zu den Notizen, die er gemacht hat. Ganz oben steht: »Heiderer«. Daneben hat Robert einen kleinen Totenkopf gemalt. Kindisch, aber es hat gutgetan. Robert muss aufpassen, dass er sich nicht zu sehr von seinen Gefühlen leiten lässt. Er wird Heiderer für den Mord an seinem Bruder büßen lassen, wenn er dafür verantwortlich war, das steht fest. Aber er darf Heiderers andere Verbrechen nicht aus den Augen lassen. Er muss sorgfältig Beweise zusammentragen, die Heiderer des Mordes an Ted überführen, und malt sich bereits aus, wie Heiderer anhand dieser in die Staaten ausgeliefert wird, um Adenauer aus der Schusslinie zu bringen. Dann kann er ohne Gesichtsverlust einen anderen Minister ernennen.

      Unter den Totenkopf hat er in Stichworten Heiderers Werdegang im Dritten Reich bis 1941 aufgelistet. Eine fast makellose Karriere. Einer der Ersten in der NSDAP, glühender Verehrer von Adolf Hitler, Studium der Wirtschaftswissenschaften, einer der wenigen Experten für den Osten. Beste Verbindungen zu Canaris. Das hat ihm später ein paar Probleme eingebracht, nichts Ernstes. Die Zeit danach interessiert Robert vorerst nicht, denn Heiderer wird seit dem Ende des Krieges, seit er für das FBI arbeitet, lückenlos überwacht. Heiderer hat nach Ende des Krieges nicht versucht, Beweise zu vernichten oder Zeugen zu beeinflussen, geschweige denn zu töten. Er hat sich zu Recht auf seine Seilschaften verlassen und auf seine Nützlichkeit für die neuen Machthaber. Er ist intimer Kenner der Nazi-Szene, er kennt viele Namen und er hilft bei der Einschätzung der Lage im Osten. Er kennt Polen und die Ukraine und Russland bis nach Moskau wie seine Westentasche. Er kennt die Seelen der Menschen, die Strukturen der Macht und die Traditionen, die Land und Menschen geprägt haben. Aus seinen Berichten spricht durchaus Sympathie für Russen, Ukrainer und Polen. Nicht aber für Juden. Er unterstützte Hitlers Ostpolitik, hielt Massenmord allerdings für nicht zweckmäßig, sondern setzte voll und ganz auf Umsiedlung.

      Robert nimmt an seinem Sekretär Platz, macht weiter, wo er vor drei Stunden aufgehört hat. Namenslisten der Opfer und der Soldaten des Bataillons Ostmark durchgehen, abgleichen mit Todeslisten und Adressbeständen, mit Geheimdienstdossiers und Personalakten. Die Ausbeute ist mager, die wenigsten Männer des Bataillons Ostmark haben den Krieg überlebt. Nur eine Person hat er ausfindig machen können, die ihm weiterhelfen könnte. Kyrill Dragusch, ukrainischer Soldat, ehemaliges Mitglied des Bataillons Ostmark, angeblich desertiert, hat politisches Asyl beantragt. Weil man ihn in der UdSSR erschießen würde, geriet er in die Fänge der Behörden. Sein Verfahren dauert, weil die Behörden zum einen überlastet und zum anderen sich nicht sicher sind, ob Dragusch der ist, der er vorgibt zu sein. Seit Ende des Krieges lebt Dragusch im Auffanglager Frauenholz, ganz in der Nähe. Glück für Robert, so hat er ihn vor der Haustüre in sicherer Verwahrung, denn heute wird Robert es nicht mehr schaffen, Dragusch zu verhören, jeden Augenblick müsste Will ihn abholen lassen. Wenn Dragusch nichts weiß, hat Robert ein Problem.

      Die Türklingel läutet. Robert schaut aus dem Fenster. Der Fahrer ist pünktlich und trägt Livree. Wills Wagen ist ein prächtiger Benz 170, mit schwarzen, geschwungenen Kotflügeln, die restliche Karosserie ist rot lackiert. Sie glänzt frisch gewienert. Mercedes sind zuverlässig und bequem, auch wenn sie ein wenig altbacken aussehen.

      Robert zieht nicht seinen Anzug an, sondern seine Uniform. Er poliert die Lackschuhe nach, richtet die Krawatte, kämmt sich das Haar zurück. Es ist zu lang, reicht fast bis über die Ohren. Er muss zum Friseur. Das kann er morgen erledigen, direkt gegenüber seiner neuen Wohnung wirbt der »Haar-Salon Fromm« mit der Garantie: »Bei Nichtgefallen Geld zurück.« Robert ist versucht, Friseur Fromm und sein Versprechen auf die Probe zu stellen.

      Robert tritt auf die Straße, schaut sich um, es ist schon längst dunkel, der Abend ist mild. Er kann nichts Verdächtiges erkennen. Der Fahrer verbeugt sich, hält den Schlag auf, schweigt. Robert lässt sich in die Lederpolster sinken. Der Benz ist brandneu, der Tacho zeigt noch keine hundert Kilometer, trägt den typischen Geruch der Fabrik, eine Mischung aus Politur, Gerbstoffen und einem Hauch Schmierstoff und Benzin.

      Der Fahrer schaukelt gemütlich durch München. Sie müssen ans andere Ende der Stadt. Der Offiziersclub liegt etwas außerhalb auf militärischem Sperrgebiet und ist ebenso gut gesichert wie der Flughafen Oberwiesenfeld.

      Robert bedankt sich bei dem Fahrer, der weiterhin schweigt und sich verbeugt.

      Zwei Mann von der Militärpolizei bewachen den Eingang, Robert hält ihnen seinen Ausweis hin, einer telefoniert, gibt seinem Kameraden ein Zeichen, der nickt und macht den Weg frei.

      Robert tritt ein, der Vorraum ist gefüllt mit Menschen, hier und da grüßt er jemanden, den er vom Sehen kennt, gibt sich nicht die geringste Mühe, unentdeckt zu bleiben. Im großen Saal wirbeln beim Rock ’n’ Roll junge Männer junge Frauen durch die Luft. Es juckt Robert in den Beinen. Er strebt auf den Saal zu, jemand schlägt ihm auf die Schulter.

      »Rob, na endlich, ich dachte schon, der Abend wird langweilig.«

      Es ist Will. Er sieht gut aus wie immer. Er könnte einen Sheriff im Wilden Westen spielen. Robert breitet die Arme aus, sie umarmen sich lange. Es tut gut, einen Menschen zu treffen, dem man vertrauen kann.

      Will schleppt Robert zu einem Getränkebuffet, ordert zwei große Gläser Bowle. Sie stoßen an, trinken, der Sekt und die Früchte prickeln auf Roberts Zunge, er schmeckt den Brandy, der ihm sanft in den Kopf steigt und ihn entspannt.

      Will bietet ihm eine Zigarre an. Robert greift zu, zeigt mit der Zigarre auf Will, ein Zeichen der Freundschaft und Vertrautheit. Robert beißt das Ende ab, spuckt das Stück Tabak auf den Boden, lässt sich von Will Feuer geben, es knistert, der Duft steigt Robert in die Nase. Er schließt die Augen, seufzt, zieht an der Zigarre. Der Qualm füllt seine Mundhöhle, er kaut ein wenig, stößt ihn aus. Bilder schießen durch seinen Kopf. Er sitzt mit seinem Vater auf der Veranda. Sie rauchen, besprechen, was zu tun ist auf der Ranch: Zäune müssen ausgebessert, Pferde zugeritten und die Kälber mit Brandzeichen versehen werden. Ted ist in der Stadt, trifft sich mit seiner neuen Freundin, Mutter ist zum Plausch bei einer Freundin. Robert zieht erneut Rauch in den Mund. Was für eine Würze! Was für ein großer Geschmack, wie das weite Land, in dem er groß geworden ist. Und doch stammt diese Zigarre nicht aus seiner