Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber

Читать онлайн.
Название Das Gesetz des Ausgleichs
Автор произведения Johannes Huber
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783990014264



Скачать книгу

mit zwei Sätzen erklären: Kriege können entstehen, wenn jemand eine Ohrfeige bekommt und sofort zurückschlägt. Schlägt er nicht zurück, sondern hält er, bildlich gesprochen, die zweite Wange hin, gibt es keinen Krieg. Die Botschaft lautet: Üben wir uns im Nachgeben, denn es verbessert die Welt und bringt uns dem Himmel näher.

      Die Kunst besteht darin, Aggressionen, die uns widerfahren, nicht sofort mit Aggression zu beantworten. Das verlangt nach innerer Kraft. Jemand behandelt uns ungerecht, doch wir fahren ihm nicht sofort mit unseren Krallen ins Gesicht, sondern warten, denken nach und zügeln unsere negative Energie. Dadurch bleibt ein Kampf aus. Dadurch erhöhen wir uns. Dadurch wachsen wir über uns hinaus. Dadurch wird die Welt besser. Nachzugeben ist die erweiterte Form des Kompromisses. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes eine Königsdisziplin.

      Einlenken tut gut. Das ist wissenschaftlich evident. Wir leben gesünder, wenn wir darauf verzichten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Studien dazu sind in einer Meta-Analyse zum Thema Herzerkrankungen zusammengefasst. Sie zeigen das Naheliegende: Zorn erhöht das Herzinfarktrisiko signifikant.25

      Der Blutdruck steigt rapide an, der Puls hämmert, der Atem wird heiß, die Augen sehen rot. Wer sich wie ein Pitbull auf seinen Widersacher stürzt, versetzt auf Dauer seiner eigenen Gesundheit den Todesstoß. Denn das Herz ist das Organ der Liebe. Es sieht es nicht gerne, wenn der Hass dominiert. Wird der Groll zur treibenden Kraft, gibt das Herz irgendwann auf.

      Wir lächeln heute über die Bibelstelle, die uns sinngemäß empfiehlt, die zweite Wange hinzuhalten, wenn uns jemand ohrfeigt. Wie dumm ist das denn? Wer will sich denn auf die Art als Weichei outen? Irgendwann scheinen wir das Gefühl für das Majestätische am Nachgeben verloren zu haben.

      Dabei ist die Aggression, derer wir uns gerade in unserer Empörungsgesellschaft so gerne bedienen, nichts weiter als die simpelste Art, einem Zwist zu begegnen. Es ist das Schwert des Stümpers, nicht das Florett des Weisen. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, dass Nachgeben die bessere Strategie ist.

      Eines davon geben Napoleon Bonaparte und sein Kratzbaum Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Während Napoleon zum Jähzorn neigte, war Talleyrand, ehemals Bischof von Autun, später Außenminister Napoleons und sein engster Berater, ein Ausbund an Selbstkontrolle. Niemals widersprach Talleyrand seinem Herrn, den er auch wie einen solchen behandelte. Ihm wird folgender Satz zugeschrieben: »Ich bin ein alter Parapluie, auf den es seit vierzig Jahren regnet, was macht mir da ein Tropfen mehr oder weniger?«

      Überliefert ist eine Szene, in der sich Napoleon mit hochrotem Kopf auf die Zehen stellte, um ganz nahe an das Gesicht des größeren Talleyrand heranzukommen. »Wissen Sie, was Sie sind?«, schrie er ihn an. »Sie sind nichts als Scheiße in Seidenstrümpfen!« Daraufhin rannte der Kaiser aus dem Zimmer, um gleich darauf wieder zurückzukehren und weiter auf seinen Getreuen einzuschreien. Wenn es »eine Revolution, einen Putsch oder sonst irgendwas« gäbe, werde er, Talleyrand, einer der ersten sein, die dran glauben würden. »Merken Sie sich das!«, schrie er.

      An dem majestätisch gelassenen Talleyrand perlte derlei ab. »Schade, dass ein so großer Mann so schlechte Manieren hat«, soll er bloß beim Hinausgehen gesagt haben. Napoleon musste dann auch vor ihm »dran glauben«. Als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde und dort an Magenkrebs mit Lymphknotenbefall starb, blieb Talleyrand ein Faktor in der Politik. Er diente in seinem politischen Leben sechs Regimen. Zuerst der vorrevolutionären Kirche, danach der Revolution, dem Direktorium, dem Kaiserreich, den Bourbonen und am Ende dem Bürgerkönig Louis Philippe. Das Geheimnis hinter seiner Strategie war, einstecken zu können, ohne auszuteilen. In seiner Branche gibt es dafür auch ein Wort mit zehn Buchstaben: Diplomatie. Der Zornige gewinnt vielleicht eine Schlacht, aber nie den Krieg.26

      In dieser Kunst übte sich im Mai 2020 übrigens auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz in bemerkenswerter Weise. Es ging um die Situation der Kunst in der Corona-Krise. In einer Einblendung kritisierte ihn der Direktor des Theaters an der Josefstadt ungewöhnlich hart und teilweise untergriffig. Der Kanzler nickte. »Der Herr Direktor hat recht. Wir werden uns das überlegen.«

      Am Sonntag war der Theaterdirektor erneut eingeladen. Der Direktor war nun wie ausgewechselt. Sinngemäß sagte er, dass die Meinung des Kanzlers viele interessante Aspekte habe, dass er sich offenbar ehrlich bemühe und dass man sehen werde, was die Zeit bringe. Besonnenheit, auch wenn sie glatt ist und bloß als politische Methode der Empfehlung von Spin-Doktoren folgt, führt offenbar zu Besonnenheit.

      Manche Menschen tun sich damit leichter, andere schwerer. Denn die Ursachen für Jähzorn liegen oft in der Endokrinologie. Sie haben zum Beispiel mit dem Testosteronspiegel zu tun, der bei jedem Menschen genetisch determiniert ist. Mit ihm steigt der Hang zur Aggression. Davon mehr im dritten Teil, in dem wir uns auch mit der Wirkung unseres Hormonhaushaltes auf unser Verhalten und mit der Wirkung unseres Verhaltens auf unsere Hormone befassen werden.

      Am Nordufer des Sees Genezareth

      Die Geisteshaltung des Nachgebens und Hinnehmens, selbst wenn wir ungerecht behandelt werden, wurzelt im Christentum. Genau genommen entstand sie am Nordufer des Sees Genezareth. Es ist ein magischer Ort mit warmen Quellen, und wo warme Quellen sprudeln, schwimmen meist auch viele Fische, die wiederum Fischer anlocken. Dort, auf einer Erhebung, hielt Jesus Christus die Bergpredigt, vor Fischern, die seine Apostel wurden, und in der er die Sache mit der zweiten Wange erstmals verkündete.

      Im Matthäus-Evangelium finden wir die Bergpredigt mit ihrer zeitlosen Gesetzmäßigkeit. Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg, heißt es dort. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. Dann kommt Jesus zur Sache. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

      Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.

      Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

      Der Verzicht auf Gegenwehr hat freilich auch in der Bibel nichts mit Kapitulation zu tun. Um das zu erkennen, bedarf es einen Blick auf die sprachlichen Feinheiten. Im Griechischen und im Hebräischen bedeutet »keinen Widerstand leisten« eigentlich, »du sollst deine Art überwinden«.

      Unsere »Art« meint grob gesagt unseren Egoismus, das von unserem Willen geschaffene Konstrukt unserer Überzeugungen, Ideen und Wünsche, das wir vor uns hertragen, und mit dem wir uns oft genug selbst im Weg stehen. Als der Rabbi Akiba, einer der bedeutendsten Väter des Judentums, gefragt wurde, wie er sein hohes Alter erreicht habe, antwortete er: »Ich habe nicht auf meine Art bestanden.«

      Das bedeutet, er konnte nachgeben.

      »Leiste keinen Widerstand und lass dich auf die andere Wange schlagen« heißt in Wahrheit »Entledige dich deiner alten Muster, sei nicht dein altes Du, dein erzürnbares Ego, sondern wachse über deine Art hinaus«. Mit Schwäche hat das ganz bestimmt nichts zu tun.

      Dass wir diese Art der Demut, die Kunst des Nachgebens, nicht einfach von heute auf morgen lernen können, ist klar. Entscheiden wir uns dafür, wird unser erster Impuls, wenn uns jemand auf die Zehen steigt, wohl trotzdem noch eine Weile kein herzliches Dankeschön sein. Das verlangt Übung. Askese. Und Training der inneren Ausgeglichenheit, denn je unruhiger unser Geist ist, desto leichter lassen wir uns reizen.

      Die Feldrede nach der Bergpredigt

      In der Feldrede, einem Teil des Lukasevangeliums, in dem Jesus seine Lehre verkündet, klingt die Botschaft ganz ähnlich. Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt,