Название | Menschen mehr gerecht werden |
---|---|
Автор произведения | Franz Reiser |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429064037 |
Zwei prominente Stimmen zur Psychotherapie sollen noch zu Wort kommen. Jacob A. Belzen sieht eine Analogie im therapeutischen Umgang zwischen dem Bereich Religiosität/Spiritualität und dem Bereich Sexualität: Psychologen wüssten, wie wichtig und schwierig es sein könne, in professioneller Weise über diesen Lebensbereich zu sprechen. Sie sollten sensibel sein für die jeweilige Relevanz, empathisch zuhören, sich Urteilen und Bewertungen enthalten, Fachwissen besitzen … Psychotherapeuten dürften hier so wenig ihre Klienten anleiten wie darin, wie sie ihr Geld ausgeben oder wohin sie in Urlaub fahren sollten. Aber während Therapeuten ausgebildet seien, über solch profane Themen wie finanzielles, sexuelles oder Ess-Verhalten zu reden, sei kaum jemand ausgebildet, mit moralischen, ethischen, religiösen und spirituellen Themen professionell umzugehen – eine analoge Qualität an Ausbildung für den Umgang mit diesen Themen lege sich darum nahe (vgl. Belzen 2004, S. 296).10
Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser hat 27 Jahre nach seinem sehr bekannt gewordenen Buch Gottesvergiftung (1976) eine aktualisierte Sicht vorgelegt: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott (2003). Darin legt er Psychotherapeuten nahe, „nach zwei Richtungen wachsam“ zu sein: einerseits für „ den düsteren Gott hinter einer Depression oder einer Angstneurose“, andererseits für die „Entdeckung einer religiösen »Substanz«, in welcher Form auch immer, die einen tragenden Grund bedeuten kann“. Deshalb sollten sie in ihren „Deutungen eher sehr zurückhaltend sein, um nicht ungewollt zerstörerisch zu wirken.“ (ebd., S. 11) Er sieht in „Gottesvergiftungen“ eine „sehr primitive Theologie am Werk“, „die Gott als Instrument der Erziehung und der Einschüchterung benutzt hat.“ (ebd., S. 23) Andererseits entdeckte er ein positives menschliches Grundgefühl, das er „Fähigkeit zur Andacht“ nennt (vgl. ebd.). Ihr komme in der kindlichen Entwicklung „eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt“ zu. Es sei dann „entscheidend, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen wird und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäß hineingießen.“ (ebd., S. 24) Moser sieht die Ursachenzusammenhänge deshalb differenzierter als 1976 und verweist auf zirkuläre Prozesse, vorgegebene Dispositionen und destruktive Schleifen mit evtl. pathologischen Folgen (ebd., S. 71) f.). In der therapeutischen Arbeit mit Patienten, die scheinbar alles Religiöse weit hinter sich gelassen hätten, die widerwillig oder „höhnisch auf Fragen nach einer religiösen Vorgeschichte“ antworteten, entdecke er zum Teil, dass „die Abkehr von Religion […] keine wirkliche Erledigung oder Trennung“ war, sondern eher „einer Verschüttung“ gleiche, einer „Unterbringung Gottes oder der eigenen Frömmigkeit in einer schwer zugänglichen seelischen Deponie“, wobei er als Therapeut die Ahnung habe, „dass unter den wackelig gewordenen Fundamenten der Hilfe suchenden Person Gottesteile modern“ – dann gehe es „um eine Begegnung und Aussöhnung mit einer Gottes- oder Kirchenbeziehung“ (ebd., S. 72) f.).
Das Einleitungskapitel des Handbuchs Spirituality in psychiatry des Royal College of Psychiatrists meint ganz anschaulich und mit britischem Charme: Spiritualität samt ihren psychologischen Aspekten sei für alle Psychiater relevant, nicht als Zusatz in einem ohnehin überfüllten Curriculum, sondern als Gedanke im Hinterkopf, der manchmal auch weiter nach vorne komme (vgl. Sims u. Cook 2009, S. 1). Psychiater und andere Profis im Dienst der seelischen Gesundheit müssten „zweisprachig“ sein, die Sprache von Psychiatrie und Psychologie wie auch die „Sprache“ von Spiritualität fließend beherrschen, die mit Themen wie Sinn, Hoffnung, Werten, Verbundenheit und Transzendenz zu tun habe – und wie jede Sprache brauche diese ebenfalls Übung (vgl. ebd., S. 14).
1.3 Menschen gerecht werden
Der Psychiater Thomas Reuster spricht vom therapeutischen Bemühen, Patienten als individuellen Personen gerecht zu werden:
Psychotherapeuten haben den Ehrgeiz, ihren Patienten gerecht zu werden. […] Die Psychotherapeuten (vor allem tiefenpsychologischer Provenienz) glauben […], dem Patienten als Person und als psychische Einheit gerecht werden zu sollen. Sie wollen nicht ein bißchen verstehen, sondern möglichst ganz verstehen. Sie möchten weniger einem Problem, sondern einem Problem dieses Menschen gerecht werden. Dabei zeigen sie Teilnahme, Empathie, Solidarität. (Reuster 1999, S. 69)
Diesem Anspruch könne man natürlich auch bei bestem Bemühen nie ganz entsprechen, es gebe viele Möglichkeiten, falsch zu liegen oder sonst etwas schuldig zu bleiben (vgl. ebd., S. 70).
Für die DGPPN beinhaltet Gerechtigkeit u. a. „die faire Berücksichtigung sämtlicher individueller Besonderheiten in der Behandlung“ (vgl. DGPPN 2012b, S. 2).11 Mathias Berger spricht von der „Kunst der komplementären Beziehungsgestaltung“ und der hohen Relevanz einer idiographischen, „auf den einzelnen Patienten zugeschnittene[n] Vorgehensweise des Therapeuten“ (Berger 2013, S. 64).12 Giovanni Maio betrachtet in medizinethischer Sicht Krankenbehandlung als Dienst „für einen ganzen Menschen in all den vielfältigen Facetten seiner einzigartigen Lebensgeschichte.“ (Maio 2012, S. 395)13 Speziell für unser Thema zieht Klaus Baumann die Schlussfolgerung: Spirituelle Bedürfnisse und religiösen Glauben von Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie zu respektieren und wertzuschätzen sei ein wichtiger Schritt, um den Patienten selbst, ihrer menschlichen Würde und ihrem inneren Leben gerechter zu werden (vgl. Baumann 2012, S. 114).14
Warum kümmert sich eine caritaswissenschaftliche Studie um dieses Themenfeld? Menschen mehr gerecht werden lautet der Titel dieser Arbeit: Einsatz für Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen der Bergpredigt und für das Christsein von höchster Priorität (vgl. Schockenhoff 2014, S. 193). Christliche Ethik ist dabei „keine religiöse Sondermoral“, sondern lehrt
eine vernunftbegründete Moral des vollen, unverkürzten Menschseins, in deren Zentrum die Sorge um das Wohlergehen der Person und die Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten steht. Der Einsatz der Christen für die größere Gerechtigkeit im Sinne Jesu führt nicht zu einer anderen oder besseren Moral, sondern dazu, dass Christen sich durch ein besonderes Engagement für alles auszeichnen, was nach menschlichen Maßstäben erstrebenswert und gut ist. (ebd., S. 193 f.)
Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit meint nach Dietrich Ritschl gleichwohl mehr als nur Symmetrie, Ausgleich und Balance,15 sondern „gelingendes Leben“, „das Gesamt der lebensfördernden, heilenden Beziehungen“ (vgl. Ritschl 1991, S. 88). „Diese ‚neue Gerechtigkeit‘ verknüpft den symmetrischen Ausgleich mit Barmherzigkeit für den Bedürftigen und Zuspätgekommenen.“ (ebd., S. 89) Solch eine Option als tragender Beweg- und Hintergrund dürfte mit den oben genannten psychiatrischen und psychotherapeutischen Anliegen durchaus konvergieren. Benedikt XVI. beschreibt in seiner Enzyklika Caritas in veritate eine zentrale Verbindung von Caritas und Gerechtigkeit:
Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr „Mindestmaß“ […]. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert. (Benedikt XVI. 2009, Nr. 6)
Demnach dürfte es – zumindest „anonym“ oder unbewusst – mit Gott zu tun haben und in seinem Sinne sein, wenn man danach sucht, Patientinnen und Patienten noch besser gerecht zu werden.
1.4 Caritaswissenschaft als praktische Theologie
Caritaswissenschaft darf und will keine ungebührliche Einmischung auf fremdem Terrain betreiben. Psychiatrie und Psychotherapie sind ein eigener und autonomer Bereich, den die Theologie selbstverständlich achtet und respektiert.16 Sie will auch niemand vereinnahmen.17