Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Название Menschen mehr gerecht werden
Автор произведения Franz Reiser
Жанр Документальная литература
Серия Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429064037



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bereits in der Psychologie scheinen – zumindest im deutschsprachigen Raum – Religiosität oder Spiritualität keine große Rolle zu spielen.5 Michael Utsch konstatiert für die Religionspsychologie in einem Forschungsüberblick:

      Es ist erstaunlich, dass die Religiosität von der deutschsprachigen Psychologie so wenig wahrgenommen wird, drückt sich darin doch eine grundlegende kulturelle und individuelle Dimension des Menschen aus. Während die psychologischen Aspekte des Sports, der Werbung, der Musik oder des ökologischen Bewusstseins mittlerweile intensiv erforscht werden, wird die Religion von vielen Psychologen immer noch ignoriert. (Utsch 2008, S. 309)6

      Dabei definiert ein klassisches Einführungswerk zur Psychologie von Philip G. Zimbardo und Richard J. Gerrig „Psychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen.“ (Gerrig u. Zimbardo 2013, S. 2) Darf man Religiosität bzw. Spiritualität dabei von vornherein ausklammern? Der namhafte Sozialpsychologe Roy F. Baumeister urteilt: „Like television, money, sex, and aggression, religion is an important fact of life, and psychology cannot pretend to be complete unless it understands religion alongside these other phenomena.” (Baumeister 2002, S. 165) Ähnlich betont ein offizielles Handbuch der American Psychological Association (APA): „In fact, we would argue that a mainstream psychology that overlooks the religious and spiritual dimension of human functioning remains incomplete.” (Pargament et al. 2013a, S. 10)7

      Im Bereich von Gesundheit und Krankheit wird ähnlicher Bedarf angemeldet. Für die Gesundheitswissenschaft allgemein kommt Florian Jeserich in einem Literaturüberblick zu dem Schluss: „Die systematische Erforschung von Religion(en) und Spiritualität(en) als potentiell gesundheitsrelevante Faktoren ist ein Desiderat in der deutschen Gesundheitswissenschaft.“ (Jeserich 2011, S. 143) Spezifisch für unser Thema formuliert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einem aktuellen Positionspapier:

      Forschung über die Bedeutung von Weltanschauungen und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwünscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen Bedürfnissen der Patienten, (2) Religiosität und Spiritualität als Behandlungshindernis und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten. (DGPPN 2016, S. 7)

      Das Handbuch Religion and Psychiatry der World Psychiatric Association (WPA) beschreibt im Vorwort Psychiatrie und Religion als zusammengehörig: „Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work.“ (Verhagen et al. 2010, S. xvii) Das Handbuch möchte Neugier wecken für die Schnittstelle zwischen „psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension.“ (ebd.)

      Die Bewältigung von schweren psychischen Störungen ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ersetzt dabei nicht das, was eine Person selbst zum Umgang mit ihrem Problem beitragen kann und muss. Allgemein spricht man hier von der persönlichen Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, die Fritz A. Muthny und Jürgen Bengel im Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie so definieren:

      Die Belastungen setzen einen komplexen Verarbeitungsprozess in Gang (Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, Coping). Der Betroffene bewertet die Bedrohung durch die Krankheit und prüft, welche personalen und sozialen Ressourcen helfen, die Belastung zu mindern. Krankheitsverarbeitung ist nach Heim (1986) ‚das Bemühen, bereits bestehende oder erwartete Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder zu verarbeiten‘. (Muthny u. Bengel 2009, S. 359)

      Nach Erfahrung der Autoren stoße dieses Thema „bei Ärzten wie Pflegepersonal gleichermaßen auf großes Interesse“ und trage „viel zum Verständnis von Patienten bei.“ (vgl. ebd., S. 366) Zum Erleben und Verhalten gehört bei schweren Erkrankungen zumindest für einen Teil der Patienten auch die religiöse bzw. spirituelle Ebene mit vielerlei Aspekten, die in der Bewältigung eine Rolle spielen können: Fragen, Ringen, Suchen, Handeln und evtl. Erfahrungen von Beziehung mit anderen und dem Größeren (Transzendenten), von Halt oder Sinn.

      Das Ziel einer Behandlung ist in der Regel die Wiederherstellung der Gesundheit, oft aber auch eine Genesung, die mit evtl. bleibenden Einschränkungen möglichst gesund umgehen kann. Heutige Definitionen von Gesundheit tragen dem Rechnung:

      Im Anschluss an den französischen Medizintheoretiker Georges Canguilhem wird Gesundheit heute von Philosophen, Theologen und Medizinern als die Fähigkeit verstanden, auch Einbußen und Störungen der Gesundheit zu ertragen und durch ihre Integration in das eigene Lebenskonzept zu einer neuen »Norm des Lebens« im Sinne eines neuen Gleichgewichtes zu finden. (Schockenhoff 2009, S. 310) f.)8

      Genesung im Sinne von „gut leben können“ mit bleibenden psychischen Problemen wird z. B. auch im Recovery-Ansatz ausdrücklich beschrieben (vgl. dazu Abschn. 3.2.6). Dazu bedarf es neben dem Abbau von Problemen auch der Aufmerksamkeit für vorhandene Ressourcen, welche sich für eine positive Bewältigung aktivieren oder verstärken lassen. Die persönliche Religiosität bzw. Spiritualität können dazu gehören – ohne sie deshalb für die Gesundheit komplett verzwecken zu wollen.9

      Psychologie wie auch Psychiatrie haben ein Interesse, mit ihrem Tun positiv für menschliches Leben zu wirken: für Humanität, Heilung, die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten. Mit dieser Option treffen sie sich mit der Caritas wie auch der Praktischen Theologie (dazu mehr in Abschn. 1.4). Nach Jacob A. Belzen ist Psychologie nicht wertneutral, sondern sie engagiere sich für die Förderung menschlichen Wohlergehens (human welfare) – wobei es freilich keinen Konsens gebe, worin dieses bestehe (vgl. Belzen 2009a, S. 207). Bernhard Grom versteht Religionspsychologie als „engagierte Wissenschaft“:

      Aufgrund ihrer psychohygienisch-therapeutischen Grundausrichtung muss sich die Psychologie für das psychische Wohlbefinden und eine günstige Persönlichkeitsentwicklung der Menschen verantwortlich fühlen; darum soll die Religionspsychologie auch ermitteln, welche religiösen Einstellungen das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen oder fördern. (Grom 2007, S. 14)

      In diesem Sinne will auch das bereits genannte APA-Handbuch mit einer größeren Beachtung der religiösen bzw. spirituellen Dimension dazu beitragen, die conditio humana zu verbessern: „Greater attention to the religious and spiritual dimension, we firmly believe, can enrich and vitalize our efforts to understand and enhance the human condition.“ (Pargament et al. 2013b, S. 18)

      Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (vormals Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich) gibt dem Zusammenwirken psychiatrisch-psychotherapeutischer Konzepte und spirituell-religiöser Konzeptionen die Überschrift „Differenzierung statt Spaltung“ (Hell 2013, S. 18). Im Blick auf Not und „Unheilsein des Menschen“ sagt er: „Psychotherapie und Seelsorge gehen nicht ineinander auf und sollten meines Erachtens nicht vermischt werden; sie lassen sich in der Praxis aber auch nicht völlig trennen.“ (ebd., S. 19) Unvermischt und ungetrennt – ein in der Theologie langbewährtes Prinzip! Hell sieht in solcher Rückbesinnung keinen „Gegensatz zur neurowissenschaftlichen Forschung“:

      Je mehr wir über das Gehirn lernen, desto mehr erkennen wir auch den Einfluss von Lebensumständen und Erziehung auf Gehirnfunktionen und Gehirnstruktur. Wir werden von unserem Gehirn nicht nur gesteuert, sondern wir verändern unser Gehirn ebenso durch gezieltes Üben und durch bewusste Lebensführung. Offenbar ist die Zeit reif, menschliche Grundhaltungen und kulturelle wie individuelle Wertvorstellungen wieder ernster zu nehmen. Dazu gehören auch spirituelle und religiöse Fragen, die in Psychiatrie und Psychotherapie lange tabuisiert wurden. (ebd., S. 20)