Название | Hightech-Kapitalismus in der großen Krise |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549301 |
Im Urteil des US-Amerikaners Marshall Berman ist das Manifest – außer allem anderen – »the first great modernist work of art« (1988, 102). Kein bürgerlicher Autor, kein Prokapitalist hat jemals die geschichtliche Produktivität des Kapitals so besungen wie Marx. Ganz recht, erwidert Robert Kurz und spaltet Marx auf in einen der Öffentlichkeit zugewandten und einen geheimen (vgl. Haug 2002). Der öffentliche oder »exoterische« sei gleichsam bewusstloser Agent der kapitalistischen Modernisierung; der geheime aber, der »esoterische«, weise die Welt des Kapitalismus total und pauschal zurück. – An diesem Aufspaltungsversuch kann man im Gegenzug deutlich machen, was die marxsche Kapitalismuskritik auszeichnet: Sie malt nicht schwarz-weiß. Produktivität und Destruktivität des Kapitalismus hängen nach ihrer Einsicht untrennbar zusammen. Sie arbeitet die grundsätzliche Widersprüchlichkeit heraus. Das zeigt sich bereits in den ersten Sätzen des Kapital, wo Marx den Doppelcharakter der Ware sowie den der warenproduzierenden Arbeit analysiert. Ein diesbezüglicher Kernsatz, der dem Alltagsverstand gegen den Strich geht, lautet: »Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.« (52) Seine Analyse des »Doppelcharakters« der Waren produzierenden Arbeit, als konkret-nützliche Gebrauchswert zu bilden und als »produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (23/58) oder »abstrakt menschliche Arbeit« Wert zu bilden (61), erklärt er zum »Springpunkt […], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« (58).
Marx nimmt die falschen Einheiten des Alltagsverstandes auseinander, wie er zugleich dessen falsche Trennungen aufhebt. Er richtet besondere Aufmerksamkeit auf Übergänge. Er macht dies nicht nur beim Übergang von einer ökonomischen Kategorie zur anderen – etwa von der Ware zum Geld –, sondern achtet auch auf Keimformen und Potenziale des Übergangs zu einer anderen Organisationsform der Ökonomie. Er identifiziert »Elemente der neuen Gesellschaft im Schoße der alten« (vgl. HKWM 3, 251ff). Im Sinn für Widersprüche und Übergänge konkretisiert sich der dialektische Charakter seiner Arbeitsweise.
Wer die Spannung solcher »Doppelcharaktere« nicht aushält und die Phänomene nach einer Seite hin reduziert, für den verdoppelt sich Marx wie bei Kurz in einen, der der einen Seite anhängt, und einen, der die andere Seite repräsentiert. Dieser verdoppelte und dadurch entdialektisierte Marx hätte uns nichts mehr zu sagen. Zum Glück ist er ein Hirngespinst. Der wirkliche Marx des Manifests und des Kapital, der die fundamentale Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Entwicklung analysiert, ist der noch immer aktuelle. Wir sind gut beraten, die radikale »Zwieschlächtigkeit« (Marx) der Phänomene im Auge zu behalten.
Die Finanzkrise hat diese Herausforderung verschärft. »Der Geldmarktsmensch«, sagt Friedrich Engels, »sieht die Bewegung der Industrie und des Weltmarkts eben nur in der umkehrenden Widerspiegelung des Geld- und Effektenmarkts, und da wird für ihn die Wirkung zur Ursache.« (37/488) Dem Alltagsverstand verdoppelt sich das Kapital ins schlechte Finanzkapital und das gute Realkapital. Doch das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Das heißt nicht, dass der Kampf um die Regulierung der Finanzmärkte nicht wichtig und momentan sogar vordringlich wäre. Nur muss man seine Grenzen kennen. Wenn die Finanzverhältnisse zur Ursache einer Krise werden können, so nur als bewirkte Ursache oder verursachende Wirkung des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion.
3. Alltagsverstand der Krise – populistisch ausbeutbar
Das Problem hat die Struktur eines Krimis. Zuerst glaubt man den Fall schon gelöst. Die tief verwurzelten, von Politikern und Medien genährten Alltagsvorstellungen kreisen mehr oder weniger um den Gedanken, schiere Gier habe die Banker dazu getrieben, das in sie gesetzte Vertrauen zu missbrauchen. Gibt man sich damit nicht zufrieden, erkennt man bald falsche Fährten. Und gräbt Schicht um Schicht tiefer. Gier gilt seit der Antike als Laster, christlich als Todsünde. Vertrauen alias Glaube gilt traditionell als Kardinaltugend; allerdings wird vor Vertrauensseligkeit gewarnt. »Gier« und »Vertrauensverlust« sind die Kategorien, mit denen man uns das Wesen der Finanzkrise erklärte. Zum Beispiel führte der Chefökonom des IMF, Olivier Blanchard, alles hierauf zurück. Den Vertrauensverlust selbst leitete er vom Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers her. Die praktische Relevanz dieses Gedankens besteht darin, der Regierung Bush mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht wie vor- und nachher so viele andere Banken mit Steuergeldern zu unterstützen, die Schuld an der Lähmung des Weltfinanzsystems zu geben.
Extremfälle, wie sie die Finanzspekulation darbietet, lassen sich nach dem Rezept des Machiavelli verwenden. Mit ihnen füttert man die Bestie. Die Bestie, das sind wir, das Volk unterhalb der Konzernzentralen, Regierungen und Chefetagen der Medien, von deren Wortgewaltigen die Dramatik der Krise »buchstäblich mit jeder Woche neue rhetorische Maßnahmen verlangt«, wie Frank Schirrmacher 2008 zu Protokoll gegeben hat. »Vertrauen« und »Gier« als die Kategorien, in denen die Krise und ihre Bekämpfung ausgedrückt werden, setzen bei Regungen an, die im »Innern« eines jeden von uns vorgehen. Das macht sie uns plausibel. Als theoretische Begriffe eingesetzt, sind sie falsch, wenn man unter einem theoretischen Begriff das zu veränderndem Eingreifen befähigende Begreifen eines Zusammenhangs versteht. Was nun »Vertrauen«, »Gier« und andere Regungen dieser Art betrifft, so erhalten sie ihre konkrete Bedeutung – und das heißt ihre Wirkungsmöglichkeiten – vom gesellschaftlichen Rahmen. Nehmen wir ein Beispiel: Dass wir gegen bedruckte Papierzettel unsere Lebensmittel eintauschen können, ist eine Frage des Vertrauens. Vertrauen ist bereits von Adam Smith als Existenzbedingung von Papiergeld begriffen worden: »Wenn die Menschen eines bestimmten Landes ein derartiges Vertrauen in das Glück, die Redlichkeit und Besonnenheit eines bestimmten Bankiers haben, dass sie zu der Ansicht gelangen, dass er jederzeit auf Wunsch bereit ist, alle ihm vorgelegten Schuldscheine zu begleichen, haben diese Schuldscheine den gleichen Stellenwert wie Gold- und Silbergeld. Grund ist das Vertrauen, dass dieses Geld den Kunden jederzeit zur Verfügung steht.« (Zit.n. Sen 2009) Wir vertrauen darauf, dass der Staat dieses Zahlungsmittel garantiert; zugleich darauf, dass die anderen auf diese Garantie vertrauen; und endlich, dass, wie es die Frankfurter Allgemeine ihren Lesern erklärt hat, »die Zahl der Zettel in einem gesunden Verhältnis zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen steht« (Ruhkamp 2009). Anlass für die Zeitung, darüber nachzudenken, war die besondere Vertrauenskrise, die im Herbst 2008 die Reichen erfasst hatte. Diese bangten nicht um ihren Arbeitsplatz, sondern um den Kurs ihrer Wertpapiere sowie, vorausschauend, um die Kaufkraft ihres Geldes. Angesichts der drohenden Inflation, mit der sie als Folge der Staatsverschuldung zur Refinanzierung der Banken rechneten, bot sich die Flucht aus dem Geld in Sachwerte an. In der Tat vervielfachten sich die Umsätze der Münz- und Edelmetallhändler seit Oktober 2008, ja sogar der Ankauf landwirtschaftlicher Nutzfläche rückte ins Visier, während bei Bloomberg des Nachts darüber geredet wurde, wie der für etwas später zu erwartenden Inflation durch spekulative Anlagen in Nahrungsmitteln und Rohstoffen auszuweichen sei. Offensichtlich drückte sich darin eine unter Anlegern weit verbreitete Einschätzung aus, denn in der Folge schnellte der Ölpreis in die Höhe.
Papst Benedikt wünschte dagegen, wir möchten in der weltweiten Finanzkrise die Vergänglichkeit alles Materiellen erkennen. »Mit dem Zusammenbrechen der großen Banken«, erklärte er, »sehen wir jetzt, dass Geld verschwindet – es ist nichts.« Er fuhr fort: »Wer auch immer sein Leben auf dieser Realität aufbaut, auf materiellen Dingen, auf Erfolg, der baut sein Haus auf Sand.« (Reuters, 6. Okt. 2008) Nur das Wort Gottes könne das Fundament für ein richtiges Leben bilden. Es fällt schwer, bei solchen Äußerungen der Versuchung zur Satire zu widerstehen. Doch hat der Vatikan uns in diesem Fall dieser Sorge enthoben. Denn ökonomisch mochte er offenbar nicht aufs Wort Gottes bauen. Eine Woche zuvor war durchgesickert, dass er »eine Tonne Gold gekauft«, in Rohstoffe investiert und dafür Aktien abgestoßen hatte. Es geht dabei immerhin um ein Kapitalvermögen, dessen ausgewiesener Teil 2007 einen Buchwert von 1,4 Milliarden Euro besaß.26
26 Davon Devisen: 340 Mio; Anleihen und Aktien 520 Mio; Immobilien 424 Mio. So laut The Tablet, wo man die offiziellen Zahlen von 2007 ausgewertet hat.