Название | Gesundheit – ein Gut und sein Preis |
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Автор произведения | Sabine Predehl |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962210021 |
Das alles lässt sich natürlich auch völlig anders auffassen. Nämlich so, dass sich der moderne Mensch um seiner frei gewählten Vergnügung willen, aus lauter Faulheit und Genusssucht oder aus lauter Ehrgeiz und Eitelkeit, selbst ruiniert. So jedenfalls sieht es aus von dem Standpunkt, dass der Mensch erstens fürs Arbeiten und zweitens für die kompensatorischen Notwendigkeiten da ist, die sich daraus ergeben.
Das Bemühen, sich das Leben schön zu machen, ist im Übrigen noch vor allen anderen Entscheidungen eine Geldfrage. Für die Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger ist das eine – je nach Familienverhältnissen – sehr eng gezogene Schranke, weil erst einmal das überhaupt Notwendige zu finanzieren ist. Die Freizeit des größten Teils dieser Leute geht daher dafür drauf, sich finanziell ein bisschen Luft zu verschaffen, was schon wieder auf Arbeit statt Erholung hinausläuft; sei es der in den letzten Jahren zunehmend in Mode gekommene Zweit- und sonstige Nebenjob, sei es die private Arbeit am eigenen Haus, das dereinst die Mietausgaben spart und vielleicht ein freieres Leben ermöglicht – wenn man überhaupt noch dazu kommt. So arbeitet sich der Mensch an dem Widerspruch seiner Einkommensquelle ab, was gänzlich in seine Privatsphäre fällt.
Dabei wird ein Familienleben abgewickelt, das erst einmal unter lauter Kompensationsansprüchen steht; logischerweise unter solchen, die es gar nicht erfüllen kann. Entgangene Lebenschancen werden nicht dadurch welche, dass man sie mit dem oder der Liebsten und Kindern teilt. Deswegen wird der Genuss des familiären Beisammenseins so stereotyp zum Betätigungsfeld und auch zum Ausgangspunkt weiterer psychovegetativer Syndrome. Der größte Stabilisierungsfaktor der Konkurrenzgesellschaft erscheint nicht umsonst als zusätzlicher „Stressfaktor“. Hausärzte und Psychiater besichtigen die Folgen.
Die große Freiheit nach einem erfüllten Arbeitsleben, das seine körperlichen und geistigen Folgen hinterlassen hat, ist für die meisten auch alles andere als ein reines Vergnügen. Jedenfalls nehmen die Berichte über das „Problem der Abhängigkeitserkrankungen des Alters“ zu – sei es von der „legalen Droge“ Alkohol oder von Schlaf- und Beruhigungspillen, ohne die die älteren, ausgemusterten Mitglieder unserer Leistungsgesellschaft offensichtlich nicht ihre Ruhe finden. Die Verschreibungszahlen solcher Medikamente sind beeindruckend – die Übergänge von „Schlafmittel-Abusus“ und „Medikamenten-Abhängigkeit“ zur ebenfalls beeindruckend zunehmenden Diagnose „Altersdemenz“ sind fließend.
Das Reich der Freiheit fängt im Kapitalismus erst da an, wo Geld keine Rolle spielt. Die Hauptrolle spielen dafür Karrieresorgen der höheren Art verbunden mit eingebildeten und wirklichen gesellschaftlichen Repräsentationspflichten im Privatleben. Die entsprechenden „Stresssymptome“ bestätigen den Volksglauben, dass „Geld allein auch nicht glücklich macht“. Moralisten mögen das als ausgleichende Gerechtigkeit verbuchen.
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Die modernen „Epidemien“ sind Folgen der modernen Konkurrenzgesellschaft, lassen sogar ziemlich tief blicken, was den ökonomischen Inhalt und bestimmenden Grund des allgemein herrschenden Konkurrenz-„Verhaltens“ angeht: Über die gemeinsamen wie die jeweils besonderen Existenzbedingungen der unterschiedlichen sozialen Charaktere dieser Gesellschaft, über ihre Lebenschancen im allgemeinen und im buchstäblichen medizinischen Sinn entscheidet maßgeblich der unentrinnbare Imperativ des Geldverdienens in Abhängigkeit vom Kapitalwachstum als der alles entscheidenden Bedingung dafür, also des wirklich herrschenden Zwecks – jedenfalls solange die zuständigen Staatsgewalten dem zivilen Leben ihrer Völker seinen Lauf lassen und nicht mit größeren Gewaltaktionen und den entsprechenden zivilisierten Todesarten in die Alterspyramide auch ihrer eigenen Bevölkerung eingreifen.
Dieser offenkundige Zusammenhang lässt sich natürlich ganz unkritisch, weltbejahend auffassen. Es braucht dazu nur den Vergleich mit den Krankheits- und Todesursachen, die in den sogenannten Industrieländern nicht die bestimmenden sind. Dieser Vergleich lässt sich zeitlich nach rückwärts anstellen, mit den überwundenen Epochen des mörderischen Kindbettfiebers oder, noch weiter zurück, der Pestepidemien; ebenso in der Gegenwart mit den Regionen, für die die Bezeichnung „Dritte Welt“ außer Mode gekommen ist, die „Heimsuchung“ durch Hungerkatastrophen und ganz unmoderne – „klassische“ – Seuchen aber gar nicht. Es ist ja auch nicht zu bestreiten: Zwar sind die Bewohner der „entwickelten“ Welt auch für Noro- und Grippe-Viren anfällig, schon gleich, wenn sie altersgerecht, schichtspezifisch und ortsüblich durch die Belastungen ihres Alltags schon „mitgenommen“ sind; ihren alltäglichen Beschäftigungen gehen sie aber unter deutlich „gesünderen“ Bedingungen nach als die Eingeborenen der vielen „failed“ und „failing states“, nämlich in hygienisch besseren Verhältnissen und unter flächendeckender medizinischer Betreuung. Dieser wohltuende Unterschied macht aber erstens nur umso klarer, dass es die speziellen Lebensbedingungen in ihrer Abteilung der globalen Marktwirtschaft und ihre „entwickelten“ Konkurrenzanstrengungen sind, was ihnen gesundheitlich zu schaffen macht. Zweitens enthält der medizinische Fortschritt, der Teile der modernen Menschheit von alten Übeln befreit hat, schon einen ersten Hinweis darauf, was dieser Fortschritt nicht nur bewirkt, sondern wofür er gut ist: Gelitten und gestorben wird eben mehrheitlich an Belastungen, die mit der Ertragskraft des Systems der kapitalistischen Konkurrenz auf dessen jeweils erreichtem Stand notwendig verbunden, also fürs Kapitalwachstum produktiv sind. Drittens schließlich sind die Lebensverhältnisse in den Teilen der „Einen Welt“, von denen die hiesige „Erste“ sich so vorteilhaft unterscheidet, selber nichts anderes als eine moderne zivilisatorische Errungenschaft: Es ist derselbe herrschende Imperativ des Gelderwerbs und des Kapitalwachstums, zu dessen unbekömmlichen bis tödlichen Notwendigkeiten eben auch die gehört: die
Krankheitsursache „Drittwelt“-Armut
Sicher, hier tun eindeutig Viren, Bakterien und allerlei sonstige Kleinstlebewesen ihr verheerendes Werk. Doch damit sie das tun, also erstens massenhaft Krankheiten auslösen, die zweitens so oft tödlich verlaufen, brauchen diese Biester Menschenmassen unter Lebensbedingungen, die der moderne Weltmarkt in Verein mit kooperationswilligen örtlichen Standortverwaltungen überall da herstellt, wo sich die Benutzung von Menschen als Arbeitskräfte durchs Kapital gar nicht oder nur zu niedrigsten Löhnen und brutalsten Leistungsanforderungen lohnt. Ursache dafür, dass es die „Keime“ in gehöriger Menge gibt, dass sie die Menschen befallen, dass Infektionen zu Epidemien werden und dass daran in hoher Rate gestorben wird, ist nicht die dortige „unberührte grausame Natur“ voller krankmachender Parasiten, auch nicht, dass in den betreffenden Weltgegenden die Segnungen unserer Zivilisation noch nicht angekommen wären; der Grund liegt vielmehr in der Sorte Zivilisation, die die kapitalistische Produktionsweise und das Regime der Weltordnungsmächte ihrer „Peripherie“ bescheren und gelehrige Gewalthaber mit zeitgemäßem Geldbedarf vor Ort in Kraft setzen und halten. Zu ebendieser Zivilisation gehört zudem nicht bloß massenhafter Pauperismus, sondern auch die Verpestung von Wasser, Luft und Boden, also der elementaren Lebensbedingungen, durch Ölfelder, Schwefelminen, Chemiemüll etc., verursacht durch auswärtiges, von den ortsansässigen Machthabern gern gesehenes Kapital, das nicht nur die Bewohner der Landstriche vergiftet, die es für sich nutzbar macht. Woran die Völkerschaften dort leiden und kaputtgehen, sind insofern gleichfalls „Zivilisationskrankheiten“: notwendig infolge der Regeln und Sachzwänge, die der moderne Imperialismus weltweit stiftet, und infolge der Wirkungen, die sich über die Jahrzehnte schon eingestellt haben. Dass viele solcher Krankheiten zu anderen Zeiten unter anderen herrschenden Bedingungen auch schon aufgetreten sind, ändert daran gar nichts: Die „Zivilisation“ des kapitalistischen Weltmarkts und einer Hierarchie autonomer Nationalstaaten wird nicht dadurch bekömmlicher, dass frühere, auch schon sehr „zivilisierte“ Gesellschaftsformen auch schon einen wenig schonenden Umgang mit dem vorhandenen Menschenmaterial geboten und eingerichtet haben. Wenn man der modernen „Weltordnung“ unbedingt etwas zugutehalten will, dann ist es die Errungenschaft einer Hilfsindustrie, die auch für Einwohner der „Dritten Welt“ einige Naturabhängigkeiten schlecht und recht